Irgendwann im vergangenen Jahr entschloss sich Steve Hogarth, der Sänger der Band Marillion, dass es nun wohl an der Zeit sei, sich die Haare nicht mehr zu färben. Das führte eine Zeit lang zu einem seltsamen halb schwarzen, halb weißen Scheitel, der bei den Fans im Internet zu Irritationen und heftigen Diskussionen führte. Denn man darf nicht vergessen: Nichts führt einem so sehr das eigene Alter vor Augen wie das Alter der Band, die man ein Leben lang verehrt, vielleicht sogar vergöttert hat.

Marillion waren immer eine von diesen Bands, von den Kritikern kann man das nicht unbedingt sagen. Seit ihrem Megahit „Kayleigh“, der ein Betriebsunfall war, hat sich die Band durch alle Stadien gekämpft, von kleinen Clubs bis in die Riesenarenen, zurück in die Clubs und heute wieder in die großen Hallen. Für die meisten blieb sie ein One-Hit-Wonder („Ach, die gibt es immer noch?“), für andere aber sind Marillion eine jener Offenbarungsgruppen, deren Anhängerschaft Bekenntnis und Schwur vereint. Die Konzerte, eine Selbstversicherung der Fans, in denen Lebensphasen durchlebt und durchlitten werden.

2002 hat die Band begonnen, ihre „Marillion Weekends“ zu zelebrieren. Diese zwei- bis dreitägigen Konzertreihen gibt es seit den Anfängen in Port Zélande in den Niederlanden nun weltweit – acht waren es in diesem Jahr. Man kann jetzt Worte wie „Hochämter“ oder „Messen“ bemühen, tatsächlich aber sind es Familientreffen. So auch in Berlin, wo die 2025er-Reihe zu Ende ging.

Schon am ersten Abend im Tempodrom war klar, dass man es hier nicht mit dem üblich reservierten bis gelangweilten Berliner Publikum zu tun hat, sondern mit einer eingeschworenen Gemeinschaft. Grob geschätzt waren vielleicht 20 Prozent des Publikums tatsächlich aus Berlin, der Großteil war aus aller Welt angereist: viele Polen, viele Briten, natürlich die Holländer, Italiener. Sogar aus Südamerika waren Fans nach Berlin gereist. Nicht wegen des Berghains, allein wegen Marillion.

Was diese In-Residence-Konzerte von normalen Touren unterscheidet (und immer mehr Bands haben diese Art der Veranstaltung mittlerweile für sich entdeckt) ist die Tatsache, dass man sich entspannt und in Ruhe der ausgiebigen Repertoirepflege widmen kann. So steht bei jedem „Marillion Weekend“ immer ein Album aus der über 40-jährigen Geschichte im Vordergrund.

Am ersten Abend war es das ewig unterschätzte Meisterwerk „Marbels“ aus dem Jahr 2002. Fast das gesamte Doppelalbum wurde aufgeführt, schmerzlich vermisst wurde allein das hypnotische „Angelina“. Dazu einige der Songs, die sich in den vergangenen Jahrzehnten als Livehits herauskristallisiert haben. Beispielsweise das multimelodiöse „Men of a Thousand Faces“ und der Klassiker „King“, eine Hymne über den viel zu schnellen und viel zu komplizierten Ruhm, der Selbstzweifel und Identitätskrisen auslöst. Diese Auseinandersetzung mit dem Künstlertum ist tief in der DNA von Marillion verankert. Auch die beiden letzten Alben „Misplaced Childhood“ und „Clutching at Straws“, die mit dem ehemaligen Sänger der Band, Derek William Dick, aufgenommen worden waren, beschäftigten sich mit diesem Thema.

Seit 1989 aber ist Steve Hogarth das Gesicht von Marillion. Er ist der ideale, ja, perfekte Frontmann. Er singt nicht nur, er spielt. Nein: Er verkörpert jede einzelne Zeile der Texte, unterstrichen mit punktgenauen und doch oft erratischen Gesten, die das Publikum (auch ich) nachempfindet, als wären es die eigenen. Bei kaum einer anderen Band ist die Verbindung von dem, was auf der Bühne passiert und dem, was es im Publikum auslöst, so innig wie bei Marillion.

Aber jetzt ist etwas anders, vielleicht hat es mit den schlohweißen Haaren von Hogarth zu tun. Er wirkt jetzt noch mehr wie eine seiner Bühnengestalten: der manische Voyeur, der Außenseiter, der Eindringling, der Verzweiflungstäter. Das ist unfassbar authentisch und fesselnd. Es macht immer ein bisschen Angst, ihm zuzusehen – weil er stets wie kurz vor dem Zusammenbruch wirkt. Und es macht Spaß, ihm zuzusehen – aus exakt dem gleichen Grund. Steve Hogarth lebte schon immer die Grandezza der großen Fast-Katastrophe. Vor 30 Jahren, als er (freude-)trunken auf die Riggs geklettert ist. Heute bleibt er am Boden und hebt trotzdem ab. Jeder Moment wirkt echt und durcherlebt und ist doch so übertrieben, dass es schon wieder eine eigene Kategorie ist.

Doch die Präsenz des Frontmanns geht automatisch auf Kosten der Band. Mark Kelly, der Ausnahme-Keyboarder, Steve Rothery, der Meistergitarrist, und Ian Mosley, das Rückgrat der Band am Schlagzeug, treten bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund. Allein Bassist Pete Trewavas, der sich im vergangenen Jahr einer schweren Herzoperation unterziehen musste, wird von den Fans frenetisch gefeiert und von Hogarth immer wieder in den Vordergrund gestellt. Dazu kommt, dass Hogarth, der immer schon gerne mitmusiziert hat, seinen Einsatz an eigenen Instrumenten weiter ausgebaut hat.

Am ersten Abend gibt es kaum mehr einen Song, in dem er nicht entweder am Keyboard sitzt, Gitarre spielt oder irgendwelche komplizierten Maschinen bedient, die er sich selbst ausgedacht hat. Als ich zuletzt mit ihm über die Chemie innerhalb der Band gesprochen habe, hat er gesagt, sie sei so gut wie nie zuvor. Anders kann man es sich nicht erklären, dass diese grandiosen Musiker, die mittlerweile 40 Jahren Musik auf absoluten Spitzenniveau produzieren, sich so geschmeidig damit abfinden, in die zweite Reihe gestellt zu werden.

Beim diesjährigen Weekend macht es Hogarth auch seinen Fans nicht leicht. Immer, wenn sie mitsingen wollen (und das wollen sie eigentlich immer), lockt er sie geschickt in die Falle. Er verändert seine Einsätze, seine Tonlagen, seine Intonation. Er zerlegt die Songs, dekonstruiert sie und setzt sie neu zusammen, teilweise so stark, dass sie kaum wiederzuerkennen sind. Hält er also das Mikrofon in die Menge, singt das Publikum Stücke wie „Sugar Mice“ oder „Neverland“, so wie es sie kennt – und Hogarth setzt seine eigene Interpretation darüber.

Das ist für uns lauthals Mitsingende irritierend, hebt sich aber grandios von den mittlerweile üblichen, präzise durchgetakteten und unter der Knute der auf riesigen LED-Wänden abgespielten Filme stehenden Shows anderer Bands ab. Darauf verzichten Marillion in diesem Zyklus ganz und setzen komplett auf die Präsenz von Hogarth und die kluge und irrsinnig effektvolle Lichtshow, die Maßstäbe setzt. Marillion sind heute wieder viel mehr Rockband – das funktioniert perfekt.

Der zweite Abend war das freie, radikale Spiel. Eine Reise durch das Werk, die Setlist leicht angelehnt an die erste Tour mit Steve Hogarth von 1989. Die Überraschung des Abends (für alle, die sich dem Setlist-Spoilern verweigert hatten), war „Script for a Jester’s Tear“, das Titelstück des Debütalbums. Natürlich wurde der Song gefeiert, und selbstverständlich drückt Hogarth auch diesem Song, der so sehr mit Fish, dem ehemaligen Sänger der Band, verbunden ist, seinen eigenen Stempel auf.

Es folgte eine kleine Suite aus Stücken von „Misplaced Childhood“, dem Album, das die Band zum Weltruhm geführt hat, eröffnet von „Kayleigh“, dem Hit, der ein Missverständnis war, und dann aufgefangen durch die werkwichtige Weiterführung des Konzeptalbums mit dem großartigen „Bitter Suite“. Nur die letzten beiden Songs kamen vom neuesten Album der Band: „The Crow and the Nightingale“, die Hymne auf Leonard Cohen – und die Elegie „Care“, die den Krankenschwestern während der Covid-Pandemie gewidmet ist.

So groß der erste Abend war – der zweite war einfach grandios. Eines der besten Konzerte, die ich jemals sehen durfte. 1989 ging ich mit meinem britischen Freund Neil zur Debüttour mit Hogarth, der Fish damals ersetzt hatte. Ich war skeptisch, doch mein Begleiter, der den Sänger mit seiner vorherigen Band gesehen hatte, versicherte mir, ich müsse mir überhaupt keine Sorgen machen. Nach nur drei Stücken schrien wir gegen die Buhrufe der unbelehrbaren Fish-Fanatiker an: „Hogarth’s my hero!“ Das gilt bis heute. Ich liebe diese Band.

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