Amir Gudarzi wurde 1986 in Teheran geboren und studierte dort Schauspiel und szenisches Schreiben. Im Zuge der Proteste gegen die Präsidentschaftswahl 2009 verließ er das Land. Seine Flucht führte Gudarzi nach Österreich, heute lebt er als Dramatiker und Romancier in Wien. 2023 erschien sein Debütroman „Das Ende ist nah“ bei DTV – die eindringliche Geschichte über eine Jugend in Teheran, Proteste gegen das Regime, Flucht und Asylverfahren. WELT erreicht den österreichischen Autor in seiner Heimatstadt.
WELT: Herr Gudarzi, wir blicken auf äußerst dramatische Tage für den Iran zurück.
Amir Gudarzi: Ja, für die Bevölkerung ist es durchaus tragisch. Aber beim letzten Angriff war ein bisschen mehr Schauspiel dabei.
Welt: Mehr Schauspiel?
Gudarzi: Ich beziehe mich auf den iranischen Angriff auf den amerikanischen Militärstützpunkt in Katar. Tatsächlich war es Theater, sie haben davor Bescheid gegeben, sodass die Basis evakuiert wurde. Das war ein Schauspiel für die eigene Bevölkerung und für die Proxys.
WELT: Alles andere seit dem Oktober 2024, als der Iran erstmals israelisches Territorium angegriffen hat, war kein Schauspiel. Was ging Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sich das als Exiliraner angesehen haben?
Gudarzi: Ich bin ja nicht nur Exiliraner, ich habe ein Leben in Österreich, bin Österreicher. Aber es ist nicht so, dass ich überrascht wurde von diesem Angriff auf den Iran. Es war absehbar, dass es eine direkte Konfrontation geben wird, besonders seit dem 7. Oktober 2023, nachdem Israel sich langsam an den Proxys des Irans abgearbeitet hatte. Es war sehr klar, dass sie Schritt für Schritt dem Regime näherkommen.
WELT: Sie waren auch während der israelischen Angriffe im Kontakt mit Freunden und Familie im Iran?
Gudarzi: Es gibt sehr viele Menschen, mit denen ich in Kontakt gestanden bin, die auf einmal nationalistische Gefühle hatten. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass sie diesen Bomben ausgeliefert waren, dass sie um Leib und Leben bangen mussten. In so einer Situation hört die Rationalität auf. Ich verstehe, dass ich anders darüber sprechen kann, weil ich nicht um mein Leben bangen muss. Trotzdem finde ich interessant, dass auf einmal der Nationalismus beginnt, obwohl man dieses Regime verabscheut. Das Regime ist verantwortlich für alles, was seit 47 Jahren im Land passiert ist. Die Diskussionen und Streitigkeiten mit Menschen, mit denen ich befreundet war und bin, die mir nahegestanden sind, haben mich bis heute viel Kraft gekostet.
WELT: Halten Sie denn auch engen Kontakt zu Exiliranern?
Gudarzi: Nein, ich habe mich seit längerer Zeit zurückgezogen. Für mich war immer klar, dass es mit diesem Regime nicht weitergehen kann. Ich habe nie an eine Reform geglaubt. Es gibt Leute im Ausland, die immer reformorientiert waren. Sie haben an das Narrativ geglaubt, das das Regime verbreitet: Nach uns kommen Chaos und Bürgerkrieg. Das Regime hat erfolgreich die Opposition zerschlagen, Menschen umgebracht, ins Gefängnis gesteckt, verschwinden lassen, sowohl im Inland als auch im Ausland. Und dann dieses Narrativ verbreitet. Ich galt als Hardliner und wurde immer wieder mit irgendwelchen Vorwürfen konfrontiert: Wie viel bekommst du von der CIA? Ich wurde komisch beäugt. Das war unangenehm.
WELT: Wie war es mit den Leuten, die wie Sie nicht an Reformen glauben?
Gudarzi: Das ist die richtige Opposition, zum Beispiel alte linke Gruppierungen, die gleich nach 1979 fliehen mussten, Leute, die nicht zurückgehen. Nicht wie manche von den Neueren, die sich hin und her bewegen, je nachdem, wie der Wind steht. Die alten Linken haben aber ein komisches Verhältnis zu Israel. Natürlich kann man bestimmte Dinge, die die jetzige israelische Regierung tut und getan hat, kritisieren. Aber Israel das Existenzrecht abzuerkennen, war für mich nie verständlich. Von dieser Seite kam auch oft die Frage: Wie viel bekommst du vom Mossad?
WELT: Was haben sie geantwortet?
Gudarzi: Dass die leider nicht zahlen.
WELT: Die Exiliraner sind völlig zerstritten?
Gudarzi: Es ist eine Strategie des Regimes, dass die Opposition sich zerstreitet über komische Vorwürfe und Paranoia – die gleichzeitig aufgrund der brutalen Methoden des Regimes nachvollziehbar sind. Man ist sehr skeptisch einander gegenüber. Es gab zum Beispiel Demonstrationen, da kamen 50 Menschen. Unter diesen 50 gab es 10, 15 Parteien. Eine einzige Person hatte eine eigene Flagge in der Hand. Wir waren erfolgreich darin, uns nicht auf etwas zu einigen. Das ist tatsächlich bitter.
WELT: Sie sagen, Sie glauben nur an einen Regimewechsel, der nicht vom Regime selbst ausgeht.
Gudarzi: Das ist ja kein Regimewechsel.
WELT: Eine Revolution?
Gudarzi: Man nennt auch das, was 1979 passiert ist, eine Revolution. Aber in Wahrheit war auch das keine. Es wurden zwei Figuren ausgetauscht. Wir hatten einen gewissen Schah, der als Vaterfigur fungiert hat. Dann hat man den Schah abgesetzt und einen gewissen Khomeini hingestellt, der als ein bisschen brutalere Vaterfigur fungiert hat. Das System selbst blieb fast gleich, plus islamistische Einschränkungen. Es gab auch einen weiteren Unterschied: Die Unterschicht, arme Leute vom Rand der Gesellschaft, sind zu Geld gekommen. Sie haben dann eine neue Elite gebildet. Sie haben angefangen, an den Ressourcen dieses Landes zu saugen.
Die autokratische Struktur und das System haben sich nicht verändert. Deswegen weiß ich nicht, ob man 1979 eine Revolution nennen kann. Was Khomeini installiert hat, basiert auf dem Verständnis einer Dynastie, die gottgegeben ist, aber da gibt es nicht so viele Unterschiede zu der weltlichen Dynastie davor. Allerdings haben Frauen ganz wesentliche Freiheiten verloren, sogar Freiheiten, die schon vor der Schah-Zeit existierten. Und die Positionierung zu Israel änderte sich natürlich auch diametral.
WELT: Trotzdem wird oft betont, dass es unter dem Schah liberaler zuging als in der Islamischen Republik. Ist das falsch?
Gudarzi: Es kommt darauf an, was man als liberal versteht. Wenn man den Schah nicht kritisiert hat, durfte man quasi für sich leben. Aber jegliche Kritik am System und am Schah war untersagt. Die Grenzen waren ein bisschen dehnbarer, weil man sich über andere Dinge äußern konnte, aber es bleibt ja nicht so viel übrig. Beim islamischen Regime haben wir mit einem Regime zu tun, das in seinen Anfängen so ähnlich war wie ISIS. Wenn man bedenkt, dass die Leute Freiheit haben wollten, und dann haben sie noch ein schlimmeres Gefängnis bekommen – es ist bitter, dass sie sich auf Khomeini eingelassen haben.
WELT: Wie wäre denn ein Regimewechsel realistisch?
Gudarzi: Ich glaube, es gab in der Geschichte einige Regimewechsel, die militärisch durch ausländische Mächte herbeigeführt wurden. Man kann diskutieren, ob man das gut findet oder schlecht, aber natürlich kann man einen Regimewechsel nicht militärisch herbeiführen, solange man nicht Truppen ins Land schickt. Wie wir sehen, war auch Trump nicht gewillt, so etwas durchzuführen. Stattdessen will er nun einen Deal mit dem Regime, der die Mullahs stärken wird.
WELT: Wer kann das dann bewirken?
Gudarzi: Letztendlich sind nur die Menschen im Iran in der Lage, weil natürlich keine ausländische Macht Interesse hat, für die iranische Bevölkerung diese Drecksarbeit zu leisten – Drecksarbeit in Anführungszeichen, für das deutsche Publikum. Ich verstehe auch, dass man sich fragt, wie lange die Menschen im Iran eigentlich brauchen, um endlich dieses Regime loszuwerden. Es ist einfach eine Zersetzung, das dauert manchmal lang, aber wenn man genauer hinschaut, hat sich dieser Prozess schon sehr beschleunigt in den letzten Jahren. Natürlich ist der 7. Oktober ein Datum, das eine Rolle spielt, aber 2009 kann man auch als den Beginn einer neuen Ära sehen.
WELT: Die Proteste der „Grünen Bewegung“ gegen die zweite Amtszeit Mahmud Ahmadineschāds, in deren Folge auch Sie das Land verlassen haben.
Gudarzi: Danach gab es alle vier Jahre eine große Demonstrationswelle. Vielleicht kommt es 2026 wieder dazu, jetzt, wo das iranische Regime ziemlich schwach ist. Wenn diese gegenseitigen Angriffe mit Israel tatsächlich aufhören, muss das Regime nach außen und nach innen zeigen, dass es noch mächtig ist. Das heißt, es wird eine Welle von Terror geben, eine Welle von Exekutionen, es wird Massaker geben. Wir hören jetzt, dass sie in vielen Städten massenweise Menschen verhaften, da 20 Leute, 30 in einer anderen Stadt, und sie haben einige Leute bereits exekutiert. Wenn die Bombardements aufhören, wird das Regime sich an der eigenen Bevölkerung rächen. Das kennen wir auch aus dem Irak in der Zeit von Saddam Hussein.
Das wird brutal für die iranische Bevölkerung. Gleichzeitig wird das Regime auch schwere wirtschaftliche Probleme haben. Es hatte sie bereits, aber jetzt ist es noch schlimmer, weil die Infrastruktur, inklusive Raffinerien, tatsächlich stark beschädigt ist, und die Bevölkerung braucht Benzin, das mit Subventionen finanziert wird. Diese Subventionen muss das Regime aufrechterhalten, zusätzlich zur Bezahlung der Schurken, die das Regime selbst aufrechterhalten. Das Regime wird da schon in Bedrängnis kommen. Es wird schwieriger sein, mit purer Gewalt hungrige Menschen nach Hause zu schicken. Man kann zwar keine Prognose abgeben, aber ich glaube, es sah noch nie so düster aus für das Regime wie jetzt. Die Signale, die sie schicken, diese Nachrichten an Israel: „Wenn ihr uns nicht angreift, machen wir nichts mehr.“ Das ist tatsächlich eine klare Sprache.
WELT: Eine Sprache der Schwäche?
Gudarzi: Ja, tatsächlich in Bezug auf Trump und auf Israel. Jetzt haben sie im iranischen Staatsfernsehen behauptet, dass „wir“ die Amerikaner und Israelis mit unserem Angriff auf Katar gezwungen haben, uns um die Waffenruhe zu bitten. Jedes despotische System braucht solche Propaganda für die eigene Bevölkerung.
WELT: Sie haben erwähnt, dass viele Iraner, die das Regime eigentlich ablehnen, unter Beschuss anfingen, nationalistisch zu reden. Stärken solche Angriffe das Regime nicht auch?
Gudarzi: Das sind erste Reaktionen, wenn die Leute Schutz suchen müssen, wenn sie sehen, es fallen Bomben, da und dort gibt es Explosionen, diese Stadt, die man geliebt hat, wird vernichtet.
WELT: Was folgt auf diese erste Reaktion? Oder was sollte darauf folgen?
Gudarzi: Ich glaube, mit der Zeit wird man auch darüber nachdenken, warum all das passiert. Die Bevölkerung wird sich fragen: Warum wird gegen uns Krieg geführt? Dafür ist natürlich das Regime verantwortlich. Wir müssen bedenken, dass dieses Regime 47 Jahre lang über Krieg gesprochen hat, über die Vernichtung Israels. Letztendlich bekommen sie jetzt das zurück, was sie die ganze Zeit propagiert haben. Und sie hätten 47 Jahre lang Zeit gehabt, ein Krisenmanagement zu organisieren, zum Beispiel Bunker für die Menschen, weil sie früher oder später versuchen würden, in ihrem Endzeit-Krieg tatsächlich gegen Israel anzutreten. Aber die Bevölkerung war ihnen herzlich egal, eben wegen dieser Endzeit-Ideologie. Sie meinen, wer dabei stirbt, ist ein Märtyrer und wird ins Paradies kommen. Sie denken aber in erster Linie an sich selbst.
WELT: Das Regime in Teheran hat oft davon gesprochen, dass die Souveränität des Landes und seine territoriale Integrität in Gefahr sei. Ayatollah Khomeini soll noch vor dem Umsturz 1979 im Pariser Exil den Grundprinzipien der Revolution, dass sie islamisch und demokratisch sein sollte, die Unabhängigkeit des Landes hinzugefügt haben.
Gudarzi: Im ersten Golfkrieg wurde das Land tatsächlich angegriffen, aber das Regime beruft sich auch auf die Besatzung im Zweiten Weltkrieg. 47 Jahre lang stand die iranische Bevölkerung unter Sanktionen, sie wurde von der Welt isoliert und unter Druck gesetzt, weil das Regime seine Abschreckungsdoktrin weiterverfolgt. Es hat propagiert, dass wir besetzt waren und daraus gelernt haben und deswegen all unsere Energie und Ressourcen in die Abschreckung investieren, mit unseren Proxys als Schutzmauer und dem Atom- und Raketenprogramm als Abschreckung. Aber wir sehen jetzt, dass das Regime nicht einmal adäquat reagieren konnte, als es angegriffen wurde und um seine Existenz bangte. Das merkt die Bevölkerung, glaube ich, mit der Zeit.
WELT: Wie erklärt das Regime seinen Bürgern, dass es sie trotz des hohen Preises, den sie dafür seit 1979 gezahlt haben, nicht schützen kann?
Gudarzi: Es gibt jetzt viele, auch antisemitische Verschwörungstheorien. Es wird gesagt, die Israelis, die Juden hätten Amerika in der Hand, der Westen werde von Juden gesteuert, auch Friedrich Merz. Es wird erzählt, dass die Landkarte des Nahen Ostens jetzt geändert werden solle. Das mache Israel natürlich mit Unterstützung des Westens, Amerikas. Und so weiter. Aber wer hat den Grundstein gelegt, für den Konflikt mit Israel? Ein Regime, das Israel nicht anerkennt, sein Existenzrecht bestreitet und sogar die Shoah leugnet. Und dann wundern wir uns heute, dass Israel tatsächlich das iranische Regime angegriffen hat, nach dem, was am 7. Oktober geschehen ist? Natürlich kann man sehr viel an Israels rechter Regierung kritisieren. Man sieht, dass sie ihren Kompass in Gaza längst verloren hat. Inakzeptabel sind auch Aussagen von Israel Katz, dem Verteidigungsminister, der gesagt hat, dass Teheran brennen wird, obwohl immer betont wurde, wir führen keinen Krieg gegen die iranische Bevölkerung.
Von einem demokratischen Land, das sich als einzige Demokratie im Nahen Osten versteht, würde ich verlangen, dass sie mehr Respekt zeigt für das Leben der Zivilbevölkerung. Wenn sie so weitermachen, glaube ich, könnte eine Gruppe Iraner, die mit Israel- und Judenhass eigentlich nichts am Hut hat, da reinkippen, weil das Regime so viel Propaganda betreibt. Ich habe in letzter Zeit Instagram durchforstet, auch andere soziale Medien. Krass, wie viel Content da produziert wird, um farsisprachige Menschen zu manipulieren und Antisemitismus zu schüren.
WELT: Was findet man da?
Gudarzi: Einerseits wird behauptet: „Wir sind stark, wir werden Israel besiegen.“ Auf der anderen Seite wird auch ein Nationalismus propagiert gegen „die Juden“, die jetzt auch unser Land angreifen wollen. Man bedient sich sämtlicher Narrative und setzt etwa diesen Krieg mit dem Krieg Saddam Husseins gegen den Iran gleich. Saddam hatte imperialistische Ansprüche. Vonseiten Israels gibt es aber keine solchen Ansprüche. Israel hat nirgends gesagt, wir wollen jetzt einen Teil vom Iran.
WELT: Kann man sagen, dass es ein klares Israelbild gibt in der Bevölkerung des Iran?
Gudarzi: Israel ist eine Art Projektionsfläche – wie übrigens auch im Westen. Im Iran ist es ist der Feind, den das Regime für sich zusammengebastelt hat und den man vernichten möchte. Sehr viele Iraner haben sich aber in den letzten Jahren solidarisch mit Israel verhalten, wenn es darum ging, dass iranische Ressourcen in den Libanon, nach Syrien und Palästina zu den Proxys fließen sollten. Das war, glaube ich, der springende Punkt, an dem die Bevölkerung dachte: Wir leiden selbst unter wirtschaftlichen Sanktionen. Wir leben in wirtschaftlicher Not. Warum sollen unsere Gelder da hinfließen?
Wir haben natürlich auch eine linke Gruppierung, mit der auch ich im Iran zu tun hatte. Die sind sehr europäisch geprägt und kommen teilweise nicht mit dem Existenzrecht für Israel klar. Sie versuchen, ihren Antisemitismus unter dem Deckmantel einer Kritik an der israelischen Regierung zu verstecken. Dann gibt es religiöse Menschen, die das Regime unterstützen. Die sind auf der gleichen Wellenlänge wie das Regime. Und schließlich haben wir Leute, die schon vor der Revolution gelebt haben. Die haben dann auch ein anderes Bild von Israel. Teilweise waren sie sogar in Israel oder hatten Kontakt mit Israel. Damals hatte der Iran eine relativ gute Beziehung zu Israel, als eines der wenigen Länder, die Israel Öl verkauft haben. Es sind verschiedene Bilder von Israel, die im Land kursieren. Und je nach Situation verändert sich das.
WELT: Hat es sich jetzt verändert?
Gudarzi: Jetzt gibt es auch Gruppierungen, die gut finden, was Israel gerade gemacht hat, hochrangige Revolutionsgarden umzubringen, die zuständig waren für den Tod sehr vieler Iraner. Aber ich glaube, die Grenze wird dann überschritten, wenn sie sehen, dass so viele aus der Zivilbevölkerung ums Leben kommen. Die iranische Bevölkerung befindet sich ja in einer Art Geiselhaft. Nicht alle, es gibt natürlich diese 20, 15 Prozent, die dann doch das Regime unterstützen und es am Leben halten. Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass fast alle diese Menschen als Kinder in den Schulen „Tod Israel“, „Tod Amerika“ rufen mussten, und dabei gedacht haben, das sei einfach nur im Bereich der Fantasie, das ist nur einfach ein Satz, den wir aussprechen. Aber Sprache bewegt auch etwas.
Und wenn die Leute jetzt auf einmal sagen, „Israel greift uns an“. Wenn man klein ist, in der Schule, kann man nicht so viel dafür, weil man ja etwas nachplappern muss. Aber ich frage mich schon: Wie viele Jahre lang hätte man denn weiterhin die israelische Flagge angezündet, wie viele Jahre hätte man weiterhin den Juden und Israelis den Tod gewünscht? Aber ab einem gewissen Zeitpunkt muss man sich bewusst werden und verstehen, was es bedeutet, wenn man anderen den Tod wünscht und ihre Flaggen verbrennt.
WELT: Iran hat die größte jüdische Gemeinde im sogenannten Nahen Osten. Eine überschaubare Gruppe freilich, viele sind auch nach Israel ausgewandert. Wie ist die Lage dieser Menschen? Leiden sie unter der Verschärfung des Konflikts zwischen Israel und dem Iran?
Gudarzi: Ja, zunächst in Bezug auf Israel: Man vergisst oft, dass man, wenn man über Israel spricht, gleichzeitig über ein paar hunderttausend iranische Juden spricht, die dort leben. Israel ist auch kein homogenes Land. Im Iran selbst leben noch ungefähr 20.000 Juden. Ich glaube, bis jetzt war es so, dass das iranische Regime die iranischen Juden gebraucht hat, um zu sagen: Wir sind nicht antisemitisch, wir haben nur ein Problem mit Israel. Iranische Juden waren immer eingeschränkt, aber sie hatten, obwohl sie als Gruppe ganz klein sind, auch einen Vertreter im iranischen Parlament.
Das heißt, dafür, dass sie wirklich eine kleine Gruppe sind, haben sie schon gewisse Rechte, die andere Minderheiten in dieser Form nicht haben. Ich glaube, sie werden jetzt keinen Hass auf sich ziehen, weil sie iranische Juden sind und keine Israelis. Aber natürlich wird man genau hineinschauen, inwieweit eine Verbindung zu Israel besteht. Ich glaube aber, andere Bevölkerungsschichten werden mehr im Fokus stehen als iranische Juden.
WELT: Der amerikanische Politologe Vali Nasr hat gerade ein viel diskutiertes Buch veröffentlicht, in dem er die These aufstellt, der Fundamentalismus des Regimes sei eher ein Vehikel oder Mittel zum Machterhalt als der Motor der iranischen Politik. Er widerspricht damit der verbreiteten Auffassung, beim Regime in Teheran handle es sich um letztlich irrationale, verblendete Akteure. Was halten Sie davon?
Gudarzi: Ich habe sein Buch nicht gelesen, aber der Grundaussage würde ich jetzt auf die Schnelle eher nicht zustimmen. Das iranische Regime hat ein paar Säulen, auf denen es gebaut ist: Zwangsverschleierung ist eine dieser Säulen. Es kann kein iranisches Regime ohne Zwangsverschleierung geben, genauso wie es kein iranisches Regime ohne den Willen zur Vernichtung Israels geben kann. Das ist ein ideologischer Grundsatz, der das Regime jetzt fast das Leben gekostet hätte. Wenn Israel weiter gemacht hätte, ständen sie tatsächlich vor dem Aus. Man sieht auch ihre Angst, wie sie reden, wie sie sich nach außen und innen verhalten. Wenn der Fundamentalismus tatsächlich nur ein Vehikel wäre, frage ich mich, ob sie für diese ideologischen Grundsätze tatsächlich ihre gesamte Existenz aufs Spiel setzen würden. Ich sehe Anzeichen einer Obsession mit Juden beim iranischen Regime, das noch immer darüber redet, Israel vernichten zu wollen. Selbst wenn ihre Existenz auf der Kippe steht, hören sie nicht auf, mit ihrer Vernichtungsfantasie.
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