Ein Frauenchor legt akustischen Nebel über den Vorplatz des Hamburger Bahnhofs, der Nationalgalerie der Gegenwart in Berlin. Die Besucher verlangsamen die Schritte, bevor sie das Gebäude betreten. Drinnen empfängt sie die gigantische Halle mit ihrer gewohnten Kühle, das Licht fällt grell durch hohe Fenster. Doch zwischen den massiven Wänden hängen zottelige Textilskulpturen, gefärbt in warmen Erdtönen. Stickereien darauf zeigen Hände und Körperfragmente, deuten Berührungen an. Dazwischen spielen Performer.
Der mächtig und sonst Distanz schaffende Raum wird durch die entstandenen Nischen und Verstecke fast intim. Der Chor, der draußen noch fern klang, ist hier ganz nah und vermischt sich mit tschechischem Sprechgesang aus hoch gestapelten Lautsprechern. Glänzende Pfützen aus Kunstharz und dunkle Erde durchziehen den Boden wie eine moorige Landschaft. „Embrace“ heißt die Installation von Klára Hosnedlová.
Die Karriere der 1990 im tschechisch-slowakischen Grenzgebiet geborenen Künstlerin entwickelte sich rasant: Sie nahm an der Biennale de Lyon teil (2022), stellte in der Kestner-Gesellschaft in Hannover aus (2023), zuletzt in der Kunsthalle Basel (2024). Mit „Embrace“ realisiert Hosnedlová ihre bisher größte Soloshow, an der sie über ein Jahr arbeitete.
„Die Stickereien dauern mit ein bis sechs Monaten am längsten“, erklärt sie im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Zum Werk gehören mit Seidenfäden bestickte Bilder, Sandreliefs an den Wänden; in den textilen Installationen finden Performances mit wechselnden Darstellern statt. Alles scheint Teil eines Prozesses zu sein. Hosnedlová fotografiert ihre Skulpturen und Kostüme, um wiederum Bildmaterial für neue Stickereien zu gewinnen. Jede Ausstellung basiert auf den Sujets früherer Performances und bildet zugleich die Kulisse für kommende Arbeiten – Kunst als fortlaufende Erzählung.
Die Künstlerin spricht von „Aktivierung“, wenn ihre Installation von Performern bespielt wird. „Sie hinterlassen oft Spuren ihrer Anwesenheit.“ Schmutz, Gegenstände, Teile ihrer Kostüme würden bewusst zurückgelassen, damit Besucher auf diese Überreste stoßen und sich fragen, was hier zuvor geschehen sein könnte. „Das eröffnet neue Interpretationsräume“, glaubt Hosnedlová. Vorsichtig schleicht man an tentakelartigen, fast lebendig wirkenden Skulpturen aus Flachs- und Hanffasern vorbei.
Materiell erinnern sie an die raumgreifend gewobenen „Abakans“ von Magdalena Abakanowicz. Während die polnische Bildhauerin auf abstrakt körperliche Formen und klare Strukturen setzte, versteht ihre tschechische Kollegin Textilien als Sinnbilder menschlicher Nähe und Unvollkommenheit. Hosnedlovás Kunst scheint innerlich in Bewegung zu sein, als Besucher wird man Teil eines Vorgangs, der sich permanent fortsetzt. „Embrace“ bedeutet eben sowohl umarmen als auch umschlingen.
Ermöglicht wurde die aufwendige Ausstellung in einem der Staatlichen Museen zu Berlin durch privatwirtschaftliche Förderung. Der Hamburger Bahnhof kooperiert mit dem Chanel Culture Fund – prominent vermarktet im Ausstellungstitel „Chanel Commission: Klára Hosnedlová. Embrace“. Ungewöhnlich für ein öffentliches Haus in Deutschland, seinem Sponsor derartige Sichtbarkeit zu gewähren.
Der Fonds des französischen Modekonzerns unterstützt Kunstprojekte und Museen mit finanziellen Mitteln, Mentoring und dem Zugang zu seinem internationalen Netzwerk. Die National Portrait Gallery in London kam schon in den Genuss von Zuwendungen, ebenso das Centre Pompidou in Paris. Mit „Embrace“ engagiert sich die Luxusmarke erstmals für eine deutsche Institution.
Freiheit für Kreativität und Innovation
Warum Berlin? Yana Peel, Präsidentin der Abteilung „Arts, Culture & Heritage“ bei Chanel, lobt die Hauptstadt als „dynamischen und einflussreichen Ort der zeitgenössischen Kunst“, der „mehr öffentlich-private Partnerschaften benötigt, um Künstlern und Institutionen die nötige Freiheit für Kreativität und Innovation zu sichern“.
Tatsächlich beginnt die Partnerschaft zu einer Zeit, in der die Berliner Kulturpolitik vor allem von einem Begriff geprägt ist: Kürzungen. Für das Jahr 2025 wurde der Kulturetat Berlins bereits um 130 Millionen Euro reduziert, laut der zuständigen Senatsverwaltung sollen 2026 weitere 15 Millionen gestrichen werden – woraufhin der Senator seinen Dienst quittierte.
Aber auch staatliche Museen geraten unter Druck. Obwohl der Hamburger Bahnhof als Haus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) gemeinschaftlich vom Bund und allen 16 Bundesländern finanziert wird, ist das Museum für zeitgenössische Kunst mittelbar von den Berliner Kürzungen Berlin betroffen. So wurde etwa der kostenfreie Museumssonntag, eine wichtige Maßnahme zur Öffnung der Museen für ein breites Publikum, gestrichen. Gleichzeitig fehlt es trotz eines kürzlich erhöhten Etats des Bundes für die SPK an Mitteln, um Ausstellungen in gewohntem Umfang zu realisieren.
Till Fellrath, Co-Direktor des Hamburger Bahnhofs, bringt es auf den Punkt: „Ohne die finanzielle Förderung von Chanel hätten wir die Ausstellung in diesem Ausmaß nicht realisieren können.“ Die Kooperation ist auf drei Jahre angelegt, jedes Jahr soll zum Gallery Weekend Berlin ein Großprojekt folgen. Zur Höhe der Förderung möchte Fellrath lieber schweigen.
Es gehe ja auch nicht nur ums Geld, sondern auch um neue Zielgruppen, Sichtbarkeit, Relevanz. Mit der Reichweite des Luxusgüterunternehmens wolle er einerseits „unser globales Netzwerk erweitern und neue Allianzen knüpfen“, so Fellrath, und andererseits Menschen in sein Museum bringen, die möglicherweise erst durch eine solche Kooperation von dem Projekt mit Hosnedlová erfahren haben. Zudem betont er, dass die kuratorische Verantwortung beim Hamburger Bahnhof lag und der private Kulturfonds weder die Künstlerin vorgeschlagen habe, noch Einfluss auf ihre künstlerische Umsetzung nahm.
Yana Peel von Chanel formuliert es so, man wolle Künstlern Zeit und Raum geben: „Keine Aufträge, keine Vorgaben. Nur die Möglichkeit, etwas zu schaffen, was sonst vielleicht nie entstanden wäre.“ Eine Blaupause für öffentlich-private Partnerschaften im Kunstbetrieb? Möglich. Eine Antwort auf staatliche Kürzungen? Jedenfalls nicht dauerhaft.
Passend zur Zusammenarbeit von Museum und Modemarke gibt es eine künstlerisch-handwerkliche Erzählung: Die neun Meter hohen, pflanzlich gefärbten Tapisserien nehmen Bezug auf die böhmische Textiltradition der historischen Region Kopanice – die Heimat von Hosnedlovás Großmutter. Von dort aus wurden einst Webrahmen in alle Welt exportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach die Leinenindustrie jedoch zusammen.
Echos der Tradition
Um das Weberhandwerk ihrer Heimat – einst Symbol bürgerlicher Weiblichkeitsideale – in einem zeitgenössischen Kontext zu interpretieren, arbeitete Hosnedlová mit den letzten verbliebenen Leinen und Hanf verarbeitenden Betrieben im Südosten Tschechiens zusammen. „Ich befasse mich viel mit alten Techniken und historischem Wissen.“ Dabei möchte sie keine Artefakte imitieren, sondern deren Geschichte andeuten.
Hosnedlovás Ausstellung wirkt aber nicht allein durch das Sichtbare. Wie ein Echo jener traditionellen Spuren eröffnet sich eine zweite, ebenso vielschichtige Ebene – der Klang. Damit fügt die Künstlerin Erinnerungen und Einflüsse der Herkunft zu einem hörbaren Geflecht zusammen. Für die Soundinstallation, die den Raum gleichsam durchdringt und trägt, arbeitete sie mit dem belgischen Komponisten Billy Bultheel zusammen und kombinierte scheinbar gegensätzliche Tonfragmente.
Wieder hört man den Prager Frauenchor Lada, der in einem beinahe vergessenen Dialekt aus Hosnedlovás Heimatregion mährisch-slowakische Balladen über Liebe, Abschied, Geburt und Tod singt. Darunter mischen sich Wolfsgeheul und Rufsignale aus einer Zeit, in der man mündlich über Bergtäler hinweg kommunizierte. Sie verstärken das Gefühl, in eine Welt voller Bräuche und Mysterien einzutauchen. Dazu kommt noch die Stimme des tschechischen Rappers Yzomandias. Seine Texte – durchzogen von Zitaten aus dem historischen Filmdrama „Das Tal der Bienen“ von František Vláčil – brechen die melancholische Atmosphäre.
„Ich mag den Kontrast zwischen folkloristischer Musik, die Teil unseres kulturellen Erbes ist, und der sehr zeitgenössischen Musik, die eher ein junges Publikum anspricht“, sagt Hosnedlová. Die Lautsprecher, teils funktionstüchtig, teils stumm, stammen aus geschlossenen Berliner Technoclubs. Auch sie erzählen von Vergangenheit und Orten, die gerade noch pulsierten und dann verschwanden. Ihre Schau kann man als einen Ort wahrnehmen, der eben noch bewohnt wurde, in der man einem Leben nachspüren kann.
„Chanel Commission: Klára Hosnedlová. Embrace“, is zum 26. Oktober 2025, Hamburger Bahnhof, Berlin
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