Als die Bundesregierung im März 2020 den Seuchennotstand erklärte, mussten auch die Kirchen ihre Türen schließen. Gottesdienste hießen nun Superspreader-Events, die statt des Heiligen Geists das Königsvirus unter den Menschen verteilten. Wo sich zuvor zwei oder drei in Namen Jesu versammelten, sah der Staat allein zwei oder drei durch Kontaktverbote streng zu trennende Haushalte. So feierte die Christenheit in diesem Jahr nicht einmal Ostern, ihren höchsten Feiertag, sondern folgte der Anordnung „Stay at Home“. Wie eigenartig: Die Gesellschaft stand im Bann einer apokalyptischen Erwartung, und die Kirchen mit ihrer uralten Katastrophenkompetenz tauchten ab.

Auch im weiteren Verlauf der Corona-Krise fanden die christlichen Kirchen nicht zu einer eigenen Sprache, sondern sprangen auf den neuen Sprachgebrauch auf und opferten sogar ihr höchstes Personal, um die staatlichen Maßnahmen zu legitimieren: Jesus hätte Abstand gehalten, Maske getragen oder sich „boostern“ lassen, hieß es theologisch (ging er nicht vielmehr zu Leprakranken statt auf Abstand, merkte der Philosoph Giorgio Agamben an) und epidemiologisch ebenso fragwürdig wie „Impfen ist Nächstenliebe“. So schrumpfte der Unbedingheitsanspruch der christlichen Nächstenliebe auf ein paar schnöde weltliche Imperative zusammen. Und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche, könnte man – keineswegs zur Verteidigung – hinzufügen.

Doch es gab und gibt auch Widerworte: Christine Lieberknecht, ehemalige Ministerpräsidentin von Thüringen und vor ihrer politischen Karriere in der CDU als Pastorin tätig, und Kristina Schröder, ehemalige Bundesfamilienministerin, ebenfalls CDU und regelmäßige WELT-Autorin, gehören zu den prominenten Stimmen, die sich schon damals kritisch zu den Maßnahmen äußerten und in dem jetzt erschienenen Sammelband „Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise“ mit Nachdruck für eine innerkirchliche Aufarbeitung dieser Zeit plädieren. In vielen Beiträgen geht es darum, wie Ungeimpfte ausgeschlossen, Impfschäden ignoriert, Kinder isoliert und drangsaliert wurden.

Ein Vorgängerband, der aus den Regalen verschwand

Es sind nicht nur die prominenten Beiträger – wie Lieberknecht und Schröder, aber auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier, der Virologe Detlev Krüger, der Epidemiologe Klaus Stöhr oder der Immunologe Andreas Radbruch – die dem Band eine große Aufmerksamkeit sichern dürften. Es gibt außerdem eine Vorgeschichte: 2023 veröffentlichten dieselben Herausgeber, der Theologe Thomas A. Seidel und der ehemalige Chefredakteur von „Sinn und Form“ Sebastian Kleinschmidt, unter dem Titel „Angst, Politik, Zivilcourage“ einen ähnlichen Band, der bald von der Evangelischen Verlagsanstalt aus dem Verkauf genommen wurde, nachdem in der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen“ ein Beitrag erschienen war, in dem zwei Theologen gegen einzelne Beiträger des Bandes unter anderem den Vorwurf erhoben hatten, implizit antisemitisch zu argumentieren.

„Angst, Glaube, Zivilcourage“ versteht sich, im Thema und in der Zusammensetzung der Autoren, in der Nachfolge des vom Markt genommen Vorgängers, der demnächst als elektronische Publikation wiederaufgelegt werden soll. Grobe Verstöße gegen die demokratisch-freiheitliche Grundordnung lassen sich nicht ausmachen, allenfalls welche gegen das, was als guter Geschmack gilt. So dürfte eifrigen Diskurswächtern bereits als Indiz für Verschwörungsdenken gelten, dass die Schriftstellerin Kathrin Schmidt von der „Impfung“ nur in Anführungszeichen spricht, wobei selbst die Pharmaindustrie die mRNA-Technologie als „Zell- und Gentherapie“ bezeichnet.

Schmidt neigt in ihrem Beitrag, der eine „Poesie der Furchtlosigkeit“ gegen die „Politik der Angst“ beschwört, zur scharfen Formulierung unter Einsatz von religiösem Vokabular. So prangert sie das Massenexperiment mit der mRNA-Technologie als „Sündenfall auf molekularer Ebene“ an. Eine Impfgegnerin? Sei sie jedoch nie gewesen, so Schmidt, sie „merke aber, dass sich mir diese Frage heute anders stellt als zum Beispiel unter den weitgehend profitinteressefreien Bedingungen der DDR“ und mahnt im gleichen Atemzug die heutigen „Verbrechen von Pharmakartellen“ an. Übertrieben? Oder schlicht ein Konflikt der Weltauffassungen, zwischen christlichem Menschenbild und den verwissenschaftlichten Machbarkeitsfantasien des Hyperkapitalismus?

Nicht erst seit Ivan Illich („Die Nemesis der Medizin“) hat es unter Christen ein feines Gespür dafür gegeben, dass in der Moderne die Versprechen des medizinischen oder technologischen Fortschritts in die Unterwerfung der Menschen unter die Zwänge eines permanent zu optimierenden und normierenden Lebens münden, die einer Akzeptanz der Vielfältigkeit der Schöpfung – bei gleichzeitiger Zurückhaltung mit Eingriffen in diese – widersprechen. Eine humanistische Skepsis, die auch in „Angst, Glaube, Zivilcourage“ immer wieder durchscheint und nebenher zeigt, dass es sich bei solchen Kritikern der Corona-Maßnahmen keineswegs um Befürworter rabiater Sozialauslese handelt, ganz im Gegenteil. Was zurückgewiesen wird, ist ein invasiver weltlicher Zugriff auf den Leib.

Der Vorwurf der Angstmache

Es geht neben Fragen des Menschenbildes auch darum, welche Botschaften die Kirchen in der Corona-Zeit verbreiteten: Fürchtet euch? Und misstraut eurem Nächsten wie euch selbst? Mitherausgeber Seidel kritisiert, dass sich die Kirchen an der Angstmache beteiligten, statt ihrer Christenpflicht zur Entängstigung nachzukommen. So habe Martin Luther, als seinerzeit die Pest anrollte, in Schriften wie „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ den geistlichen Auftrag in Seuchenzeiten umrissen: als Tröstung. Wird der Kampf gegen die Todesangst aufgegeben, dürfte sich nicht nur die Religionssoziologie fragen, was eine Glaubensgemeinschaft dann noch zusammenhält – außer Gewohnheit. Als die Gewohnheit unterbrochen wurde, blieb es die Ausnahme, dass man sich wie zu Zeiten der frühchristlichen Konspiration zu geheimen Messen trifft, wie Seidel berichtet.

Es brauche immer „zweierlei Arznei“, argumentiert die Theologin Dorothea Wendebourg. Und die Arznei der Kirche sei der Glaube, wie sie den Schriften zur Pest entnimmt. „Die Theologen, die diese Traktate schrieben, und die Pfarrer, die ihre Ratschläge umsetzten, waren keine Pestleugner“, schreibt Wendebourg, die konstatiert, dass 2020ff aus der Kirche kaum etwas Vergleichbares kam. „Haben die Kirchen vielleicht deshalb nicht um Gottesdienst und Seelsorge gekämpft, weil sie ihrer eigenen Arznei nicht mehr viel zutrauen?“ Oder, so ließe sich zugespitzt fragen, nahm die Gesellschaft mit oder durch Corona selbst, auf Kosten der Kirchen, die Züge einer Glaubensgemeinschaft an?

Angst und Glauben sind heute, ob durch Klimakatastrophismus oder apokalyptisch eingefärbte Fremdenangst, zu einem derart bestimmenden Teil des politischen Diskurses geworden, dass die Kirchen angesichts dieser überraschenden Lebendigkeit des Religiösen in den Ruinen der säkularen Gesellschaft plötzlich abgehängt wirken. Auch deswegen scheint die Selbstverständigung über zentrale Glaubensinhalte notwendig, will man nicht dem blasphemischen Missbrauch christlicher Moral anheimfallen, wie Wichard von Heyden schreibt. Oder läuft die Pascal’sche Wette längst nicht mehr auf Gott, sondern auf den Staat? Nur wäre die Kirche dann überflüssig.

Wie passt die Zivilcourage, der dritte Begriff im Titel des Bandes, dazu? Wurde nicht in jüngster Zeit das weltliche Engagement insbesondere im Protestantismus immer wieder scharf kritisiert? Und schlägt nicht die Kritik der „Impffrömmigkeit“ (Rochus Leonhardt) in die gleiche Kerbe? Nun plädiert der Band jedoch keineswegs für einen Rückzug in den Bibelkreis oder die Klosterruhe, sondern vertritt selbst eine Spielart des politischen Protestantismus seit Luther, ja sprüht zum Teil gar vor dem protestantischen Pathos der Selbstverantwortung in Freiheit zu Gott. Und von Luther ist es nur ein Schritt zu dem Aufklärer Kant, der, weil er den Menschen als Selbstzweck setzte und den inneren Gerichtshof des Gewissens bestärkte, in vielen Beiträgen als Autorität zitiert wird.

Man kann den Sammelband auch als Symptom einer gestörten Beziehung der zwei Reiche Luthers deuten. Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, heißt es in der Bibel. Doch wenn die weltliche Gewalt immer übergriffiger wird und das Leben selbst dem totalen Zugriff unterwirft, was ist dann mit dem Reich Gottes? Identifiziert man sich mit dem Aggressor oder widersteht man? Dieser Riss geht durch die Kirchen, und man wird die zerreißenden Kräfte in den aktuellen politischen Verhältnissen zu suchen haben. Dazu zählen die „Exzesse des Autoritären“ (Schröder), die ein neues Zeitalter der Biosicherheit mit postpolitischen Mikrobürgerkriegen ankündigen, oder die organisierte Verantwortungslosigkeit einer Welt, die den Einzelnen immer ohnmächtiger macht.

Was von den Autoren, implizit und explizit, als Aufarbeitung eingefordert wird, ist kein juristisches oder parlamentarisches Unterfangen, sondern eine Reflexion auf die eigene Haltung zur Welt, auf Glauben und Moral. „Die Spaltung der Gesellschaft in Freund und Feind hätte die Kirche nie hinnehmen dürfen“, schreibt von Heyden. „Wenn die Kirche es ernst meint mit ihrem Engagement gegen Rechtsextremismus, dann sollte sie zunächst dem eigenen Mitläufertum begegnen. Sie hat mitgemacht bei dem blassen, aber autoritären ‚Extremismus der Mitte‘, wie man den Ausnahmezustand nennen könnte, in dem viele Menschen das Vertrauen in die ­Kirche, die Politik, die Medien verloren haben.“ So hat jede Glaubenskrise ihr Gutes, wie einen realistischeren Blick auf den Irrglauben.

Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt (Hg.): Angst, Glaube, Zivilcourage. Folgerungen aus der Corona-Krise. Verlag R. Brockhaus, 288 Seiten, 25 Euro.

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