Der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal, den man wegen Gefährdung der Staatssicherheit in der Berufungsverhandlung zu fünf Jahren Gefängnis verurteilte, wurde auch anlässlich der Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag Algeriens nicht freigelassen. Für den Theologen und Philosophen Jean-François Colosimo zeigt die Ungerechtigkeit, mit der Boualem Sansal behandelt wird, dass das Regime in Algier, um selbst weiterbestehen zu können, Frankreich als ewigen Feind definieren muss.

WELT: Boualem Sansal gehörte nicht zu den Gefangenen, die anlässlich des Jahrestags der Unabhängigkeit begnadigt wurden. Ist die Tatsache, dass das algerische Regime einen Schriftsteller ins Visier nimmt, für Frankreich von besonderer Bedeutung?

Jean-François Colosimo: Es sind die autoritären Mächte, die Schriftsteller zwingen, Gift zu trinken, wenn sie sich selbst beruhigen wollen. Warum sie so verbissen sind? Weil die Literatur die Lügen, die solche unrechtmäßigen Regimes ausmachen, viel besser aufdeckt als die Politik. Vor allem aber vermitteln sie den Unterdrückten Ideen und damit den Mut, sich zu erheben. Genauso war es auch bei Boualem Sansal. Aufgrund seiner Freiheitsliebe, seiner doppelten Nationalität und seiner Leidenschaft für die französische Sprache bedeutete er für die Oligarchie in Algier eine Gefahr, die sie nicht tolerieren kann. Vor allem aber verkörperte er die Möglichkeit einer anderen Beziehung zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers und beraubte das Regime seines Identitätsfundaments und seines Erbes an Erinnerungen.

WELT: War die französische Diplomatie dieser Situation gewachsen?

Colosimo: Kein einziger Präsident der 5. Republik ist in seinem Bemühen, für eine friedliche Zukunft zwischen Frankreich und Algerien zu sorgen, so weit gegangen wie Emmanuel Macron. Die Verhaftung und völlig absurde Verurteilung Boualem Sansals haben jedoch klar gezeigt, dass Algier an dieser Versöhnung nicht interessiert ist. In Paris dagegen hat die Regierungsauflösung die Neigung des französischen Außenministeriums noch intensiviert, die Fiktion eines auf Rechtsstaatlichkeit basierenden algerischen Regimes zu unterstützen, das über eine einheitliche Regierung verfügt und von unparteilichen Institutionen geregelt wird. Daher kommt auch dieser ständige Appell an eine illusorische Vernunft.

WELT: Viele Beobachter sind der Ansicht, dass das algerische Regime nur herrschende Machtverhältnisse respektiert. War man bislang zu nachsichtig mit Algier?

Colosimo: Die unfassbare Ungerechtigkeit gegenüber Boualem Sansal beweist, dass das obskure, unterdrückende oligarchische System, das die algerische Jugend zur Verzweiflung bringt, weil es die Reichtümer des Landes ausbeutet und sämtliche demokratischen Bemühungen erstickt, alles tun wird, um zu überleben. Und eben dieses System muss Frankreich als seinen ewigen Feind darstellen, wenn es selbst überleben will. Und es wird, wenn es nicht einen ständigen Tribut zahlen will, mit Repressalien reagieren müssen. Wobei wir jedoch immer eine Tür offenlassen sollten, denn genau darin besteht unsere wirkliche Pflicht gegenüber diesen Intellektuellen und Künstlern, die man aus Algier verjagt hat, für die Paris eine natürliche Zuflucht ist und die morgen eine Nation wieder aufbauen müssen, die sich nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft zuwendet.

WELT: Sie vergleichen Boualem Sansal mit Alexander Solschenizyn. Warum gerade dieser Vergleich?

Colosimo: Beide sind prophetische Schriftsteller, mit einem epischen Stil, und beide wurden zu Chronisten ihres Volkes, weil sie es aufwecken wollten, aus einer Amnesie, die ihm von einer verlogenen, tyrannischen Macht auferlegt wurde. Beide preisen konkrete Menschlichkeit und schrecken auch nicht davor zurück, sie bis in die Hölle zu begleiten, um ihr dann verkünden zu können, dass eine Erlösung möglich ist. Keiner der beiden lässt sich vom radikalen Bösen beeindrucken und beide haben die Angst, die es bei allen anderen Sterblichen auslösen würde, in einem Maße überwunden, dass sie die Gefängniszelle als Preis für unsere Befreiung akzeptierten. Und letztendlich waren beide Autoren bei uns das Ziel von schamlosen Verleumdungskampagnen, in denen sie von den schlimmsten Nihilisten unter dem Deckmantel der moralischen Integrität verdammt und ausgeschlossen wurden, um sie für ihre Gleichgültigkeit gegenüber Parolen, Schlagworten, Totems, Tabus und anderen selbst erfundenen Sittengesetzen zu bestrafen.

WELT: Solschenizyns Werk und sein Schicksal haben dazu beigetragen, der Welt die Augen zu öffnen, was die Schrecken des sowjetischen Regimes betrifft. Könnte das auch auf Boualem Sansal zutreffen?

Colosimo: Bücher wie „Le Village de L’Allemand“ („Das Dorf des Deutschen“) und andere großartige Werke von Boualem Sansal sind keine ideologischen Analysen oder politischen Programme. Sie sind eine Art spirituelles Gebetsbuch, das uns vor der Unmenschlichkeit warnt, die wir auf irgendeine Weise alle in uns tragen und die unseren einzigen und ultimativen Feind darstellen. Wir dürfen uns da nichts vormachen. Die einzige unverzeihliche Niederlage wäre es, uns zu beugen, aus Feigheit vor den tausend brüllenden Mäulern der Barbarei. Also, keine Kapitulation.

Jean-François Colosimo ist ein Spezialist für die orthodoxe Welt, Generaldirektor des Verlags „Éditions du Cerf“ und Autor des Buchs „Occident, ennemi mondial n° 1“ (Der Westen, Feind Nummer 1 der ganzen Welt“). Dieser Artikel erschien zuerst bei „Le Figaro“, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (Lena). Übersetzt von Bettina Schneider.

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