Es ist ein blutiges Lied, das hier gesungen wird, mit der immergleichen Melodie. Oder ist es eher ein Missklang, der das Gemetzel begleitet? Roland Schimmelpfennig lässt sein Stück „See aus Asche“, geschrieben für die diesjährigen Nibelungenfestspiele in Worms, wie im Loop beginnen, der auch den Zuschauern auf der Tribüne vor dem Dom nicht fremd ist: Seit fast 25 Jahren kommt man hier jedes Jahr zusammen, um das gleiche alte Lied vom Untergang der Nibelungen zu hören, jedes Jahr mit einem neuen Text, der sich in den vergangenen Jahren oft nur auf einzelne Figuren aus der Sage beschränkte.

Mit Schimmelpfennig kommt nun das ganze Nibelungenlied wieder auf die Bühne, als sensationelles Erzählerlebnis mit Drachen und sprechendem Lindenblatt. Wie bereits in seiner gefeierten Antikenbearbeitung „Anthropolis“ lässt der Dramatiker die Figuren ihre Geschichte selbst erzählen. Ihrem Schicksal können sie trotzdem nicht entkommen. Das wiegt nämlich mindestens so schwer wie der riesige Kieshaufen, den Bühnenbildnerin Andrea Wagner vom Grund des Rheins vor die wuchtigen Mauern des Doms befördern hat lassen.

Die Schauspieler, von Kostümbildnerin Maria Anderski fantasievoll geschmückt, stapfen mit großen Schritten durch dieses steinerne Rheingold, das ihre Füße zu verschlucken droht. Ein schönes Bild für die Sogkraft der Geschichte, dem die Einzelnen eine unaufhörliche, viel Staub aufwirbelnde und letztlich doch vergebliche Kraftanstrengung entgegensetzen.

Die Rolle der Plastikstühle, Modell Monobloc

Wie Fix- oder Haltepunkte auf unsicherem Grund lässt Regisseurin Mina Salehpour das Ensemble immer wieder weiße Plastikstühle, Modell Monobloc, in den Boden rammen. Am Ende ziehen sie sich wie eine Wirbelreihe über die Kieshügel, die nun wie ein neues mythisches Ungeheuer wirken, nachdem Siegfried das alte Zeitalter eines umfassenden Mythos beendete, als er den Drachen tötete.

Diese Nibelungen leben nicht in einer fernen Sagenwelt, sondern in der Zeit des Geldes und der Macht, verbunden durch Siegfried – den reichsten Mann der Welt – und Gunter – den mächtigsten Mann der Welt. Doch wie der Zuschauer von heute weiß, können solche politischen „Bromances“, die mit großem Getöne und Getöse beginnen, von sehr kurzer Haltbarkeitsdauer sein.

Obwohl sich der kleine See inmitten der mit Stühlen übersäten Kiesgrube für Siegfrieds Bad im Drachenblut giftgrün färbt und für die Schlussschlachterei sogar Feuer spuckt, ist das größte Ereignis des dreistündigen Abends der Text, den das Ensemble zum Flirren bringt. Die epische Erzählhaltung lässt dem Stoff die heiße Luft des Heldenpathos ab, ohne zugleich auch die Faszination des Stoffs zu entsorgen. „See aus Asche“ ist im Gegenteil der Beweis, dass die dem epischen Theater entlehnte Selbstreferenz mit der Weltreferenz einer fantastischen Geschichte bestens zusammengeht, so als würde Bertolt Brecht sich „Game of Thrones“ vornehmen.

Dass nun sogar das berühmteste Lindenblatt der Literaturgeschichte zu sprechen beginnt, wundert einen kaum noch, dass es zudem von einer durch die Corona-Zeit gebeutelten Tänzerin gespielt wird, führt zu einem Wow-Moment, wie bei einem Jongleur, der souverän noch eine weitere Ebene durch die Luft wirbeln lässt, wo man dachte, die Höchstmenge wäre bereits erreicht.

Ein Abend mit Fallhöhe

Als Erzähler ihrer eigenen Figuren zu agieren, ist für die Schauspieler eine dankbare Sache – auch weil es für viele komische Brüche sorgt. Doch vor allem im zweiten Teil nach der Pause, als die Sonne hinterm Dom verschwunden ist, die Schwalben ihren Flug beendet haben und sich der bleiche Mond zeigt, kommt die Tragik durch die Hintertür wieder herein. Die größte Fallhöhe haben Wolfram Koch als der abgründige Hagen von Tronje, der als ewig Zurückgesetzter seinen immer wieder zerrissenen Liebesbrief an Kriemhild gegen die Treue zum kriegerischen Männerbund eintauscht, und Kriemhild Hamann als Kriemhild, die anfangs noch vom Studium der Tiermedizin träumt, bevor sie sich in eine entfesselte Rachegöttin verwandelt, die einen See aus Blut hinterlässt.

In einer der stärksten Szenen stehen Kriemhild und die von Jasmin Tabatabai gespielte Brunhild vor dem Tor zum Dom, nachdem Brunhild erzählt hat, wie sie in der Hochzeitsnacht von Gunter (Hans-Werner Leupelt) und Siegfried (Eivin Nilsen Sathe), beides Kriegernaturen von schlichtem Geist, vergewaltigt wurde. Die beiden ersten Frauen am Hof sind beide Betrogene und doch Entfremdete in ihrem gekränkten Stolz und von den Männern abhängigen sozialen Status. Hier zeigt sich eine weitere Qualität des Textes: Anders als Ferdinand Schmalz, der 2022 für die Festspiele mit „hildensaga. ein königinnendrama“ die Geschichte kurzerhand umschrieb, sodass die Frauen ein feministisches Bündnis gegen die höfische Vergewaltigungskultur bildeten, blickt Schimmelpfennig illusionslos auf die Katastrophe, in der alle ihre fatale Rolle spielen.

Selbst als Brunhilds Vergewaltigung kein Geheimnis mehr ist, führt das nicht zur Unterbrechung der Gewalt. Es gibt in der ganzen Geschichte nichts, worauf sich eine positive Moral begründen ließe, auch keine Wahrheit, die unbeschadet vom allgemeinen Hauen und Stechen wäre. „Jetzt wird die Wahrheit zur Machenschaft, zu Intrige, die Wahrheit verwandelt sich in ihr Gegenteil, sie wird zur Lüge“, heißt es an einer Stelle, die einem mitdenkenden Publikum die Gelegenheit gibt, selbst zu überlegen, ob das heute womöglich nicht viel anders ist: Das gleiche alte Lied, aber immer wieder neues Blut.

„See aus Asche“ versucht nicht, das Nibelungenlied von problematischen Aspekten zu bereinigen, sondern lässt diese greifbar werden. Und das ist bei dem „deutschesten aller deutschen Stoffe“, so Heiner Müller einmal, eben auch die durch Faszination für die Katastrophe befeuerte Nibelungentreue, die Müller noch im Kessel von Stalingrad fortwirken sah. „Wir haben nichts als uns und unsere Treue, reißen wir so auch die Welt in Stücke“, heißt es bei Schimmelpfennig immer wieder. Lieber gemeinsam untergehen statt dem Fatalismus den Rücken kehren – ein deutscher Evergreen, der in Variationen bis heute immer wieder ertönt. Doch wie „See aus Asche“ eindrucksvoll zeigt, muss man erst die alten Hits verstanden haben, bevor man ein neues Lied anstimmen kann.

„See aus Asche“ läuft bis 27. Juli bei den Nibelungenfestspielen Worms.

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