Nitya Zysset steht am Hafen von Lorient in der Bretagne und schaut auf das 28 Meter lange Segelschiff Forel, das im Wasser schaukelt. «Es ist wunderschön. Und ich glaube, es entwickelt sich gerade eine Beziehung zwischen uns», lacht sie.

Gut so, denn in ein paar Tagen wird es zu ihrem Zuhause, geteilt mit einem Team von Klimaforschenden – in guten wie in stürmischen Zeiten. Die 42-Jährige staunt immer noch darüber, wie schnell sich ihr Leben verändert hat und wie richtig sich das anfühlt.

Legende: Das Segelschiff wurde vom Swiss Polar Institute gekauft, um damit in den Polar- und Subpolarregionen wissenschaftliche Forschung rund um den Klimawandel durchzuführen. SRF/Patricia Banzer

Fragen zu einer neuen, ökologischeren Lebensform stellte sie sich aber schon lange. Wie können wir heute verantwortungsvoll leben, im Einklang mit der Natur, den schwindenden Ressourcen? Nach zehn Jahren als Architektin habe sie ihren Job dann an den Nagel gehängt und sich für Neues geöffnet. Dieses Neue überraschte sie bald in Form einer Ausbildung zur Kapitänin für Segel-Handelsschiffe.

Auf See lernt man, die Sinne zu schärfen.
Autor: Nitya Zysset Matrosin

Als wenig später das Angebot des Schweizer Polarinstituts kommt, auf wissenschaftlicher Mission nach Grönland mitzureisen, sagt die Lausannerin sofort zu. «Es reizt mich, dieses Gebiet kennenzulernen, in dem sich der Klimawendel viel schneller zeigt als anderswo.»

Mit im Gepäck: ein Gewehr, um die Crew als Bear-Watcher gegen Eisbären verteidigen zu können. Und Respekt vor dem Leben an Bord, das auf engem Raum – milde gesagt – herausfordernd sein kann.

Grönland als Magnet

Grönland, diese zu 80 Prozent von Eis bedeckte Insel, fasziniere die Menschen schon lange, sagt Glaziologe Andreas Vieli von der Universität Zürich: zuerst die Wikinger, dann die Walfänger, später Abenteurer und Forscherinnen.

Gerade Schweizer Forschende hätten 1912 Pionierleistung erbracht, als ein Team um den Arktisforscher Alfred de Quervain das Inlandeis durchquerte und erstmals verstehen konnte, wie der Eisschild funktioniert. Damit war der Polarboom eröffnet.

Auch Andreas Vieli reist seit zwölf Jahren jährlich auf die Insel, um «Gletscherkalbungen» zu untersuchen: Eisberge, die von den Gletschern abbrechen. Beim grössten Eisstrom der Insel, dem «Jakobshavn Isbræ», brechen alle zwei Wochen Eisberge von ungefähr 800 Meter Tiefe und 2 Kilometer Breite ab.

Legende: Den Glaziologen Andreas Vieli faszinieren vor allem die Zeitskalen: Nicht selten laufe man in Grönland auf Eis der letzten Eiszeit. SRF/PATRICIA BANZER

«Das setzt so viel Energie frei, dass man es auf der ganzen Welt in Erdbebenstationen messen kann», sagt Vieli. In Grönland werde es einem besonders bewusst, dass sich alles verändere. Momentan besonders schnell.

Eissturmvögel und Eismassen

An Bord des Segelschiffs Forel tritt etwas Ruhe ein. Nach neun stürmischen Tagen ist die Atlantik-Überfahrt geschafft. Erstmals zeigt sich ein heller Streifen am Horizont, «wie ein Willkommensgruss aus Grönland», sagt Nitya Zysset.

«Auf See lernt man, die Sinne zu schärfen», so die Matrosin. Sie achte hier mehr auf Geräusche, Gerüche und Bewegungen. Gerade fliegt ein Eissturmvogel dicht an ihr vorbei. Sein Profil erinnert sie an eine Boeing. «Er gleitet dicht über der Wasserfläche und wirbelt dann blitzschnell herum.»

Bald steht die nächste Herausforderung an: Auf dem Meer um Südgrönland liegt unüblich viel Packeis, so viel wie seit 30 Jahren nicht mehr. Das könnte die geplante Ankunft im Fjord erschweren. «Auch das ist Teil der Klimaveränderung», so Zysset.

Eis als Klima-Archiv

Schwierigkeiten werden hier immer wieder mit Schönheit kompensiert. Wie die der Eisberge, die nicht einfach weiss sind, sondern je nach Licht und Alter märchenhaft himmelblau, tiefgrau oder leuchtend türkis schimmern.

Mit dem grönländischen Eis kann man bis vor die letzte Eiszeit zurückreisen und das Klima studieren.
Autor: Andreas Vieli Glaziologe, Universität Zürich

«Ich habe Tausende Fotos von Eisbergen – und jedes Mal, wenn ich einen sehe, muss ich wieder eins machen», gesteht Glaziologe Andreas Vieli. Das Eis biete aber natürlich mehr als Schönheit. «Für uns dient es als Archiv für das Klima.»

Legende: Nicht nur schön, sondern auch Informationsspeicher: Aus dem Eis gewinnen Forschende wie Andreas Vieli wichtige Erkenntnisse über das Klima. Andreas Vieli

Mit dem grönländischen Eis könne man bis vor die letzte Eiszeit zurückreisen, also etwa 120'000 Jahre, und das Klima studieren – überprüfen, wie es sich entwickelt hat. Die Spuren im Eis seien so gut, dass man über die letzten 40'000 Jahren für fast jedes Jahr erkennen könne, wie hoch die Temperatur oder der CO₂-Gehalt der Atmosphäre war.

Wenig Pause, noch weniger Privatsphäre

Nitya Zysset reibt sich die kalte Nase. «Mit einigen Tagen Verspätung und nach grossen Umwegen haben wir endlich den Fjord erreicht, wo die Wissenschaftler warteten.» Bei Nebel und viel Eis – kein leichtes Ding. «Häufig mussten wir mithilfe des Radars navigieren, um den Eisbergen auszuweichen.»

Wie in einem Labyrinth von Geistern habe sie sich im Zickzack um diese unsichtbaren Riesen bewegt. «Dafür kann man der Technik nur dankbar sein, die die Risiken der Seefahrt deutlich verringert hat».

Die Arbeit an Bord gestaltet sich spannend – und anstrengend. Die Tage sind lang, die Hände klamm von der Kälte und den wissenschaftlichen Instrumenten, die an der Winde befestigt und ins Meer gelassen werden. Pausen gibt es wenige, Privatsphäre noch weniger.

Das Leben auf dem Schiff zwingt mich jedes Mal, neue Aspekte von mir selbst zu entdecken.
Autor: Nitya Zysset Matrosin

Es gibt Momente, in denen sich Zweifel, Frust oder Einsamkeit breit machen. «Die Gefühle an Bord sind stärker als an Land», sagt Zysset. Gerade nach Wochen auf engem Raum und ohne freiem Tag. Doch lerne man dabei viel über sich selbst.

«Das Leben auf dem Schiff zwingt mich jedes Mal, neue Aspekte von mir selbst zu entdecken, denen ich vielleicht gar keinen Platz geben wollte. Das macht auch etwas Angst.» Doch gerade weil man nicht weglaufen könne, sei man gezwungen, mit den Gefühlen umzugehen, sie zu beobachten, zu akzeptieren. Was wiederum mehr Toleranz für die Gemütsregungen der anderen bringe, die man vielleicht nicht kenne oder verstehe.

Legende: Ein Polarfuchs auf Nahrungssuche. Einem solchen Tier ist Nitya Zysset zusammen mit drei Crewmitgliedern auf einer Wanderung begegnet. IMAGO/McPHOTO

Natürlich merke man auch schnell, was es brauche, um wieder ins Lot zu kommen, den Teamgeist aufrechtzuerhalten. Ein paar Stunden Schlaf. Eine nette Geste, Empathie. Oder doch eine Arbeitspause, wie auf dieser magischen Wanderung zu einem einsamen Fjord, auf der sie Rentiere, Polarfüchse, Moschusochsen sehen – und sogar ein Stück Gold finden.

Schmelzendes Eis, wachsendes Interesse

Der grönländische Eisschild verliert momentan etwa 220 Gigatonnen pro Jahr, so Andreas Vieli. «Das ist mehr als erwartet. Es ist etwa zwei Mal die ganze Masse aller Gletscher in den Alpen» oder ein Millimeter im Jahr. Was nach wenig klingt, könne verheerende Auswirkungen haben, wenn man an tiefgelegene Orte und Sturmfluten denke.

Unter dem schmelzenden Eis tauchen enorme Rohstoffvorkommen auf, die schnell internationale Gelüste wecken. «Alle haben Interesse an Grönland und wollen ihre Finger drinhaben», sagt Andreas Vieli.

Auch der Tourismus wird gerade heftig angekurbelt und nehme teils absurde Formen an. Dank neuer Flughäfen soll es auch bald Direktflüge von Kopenhagen geben, um das Eis vor der Schmelze rasch besuchen zu können. «Das wird diese Orte sicher total verändern und ich frage mich, wie sich das entwickeln wird. Wie gut kann die Bevölkerung damit umgehen? Wie stark wird sie fremd diktiert?»

Abschied von den Giganten

Die Crew auf dem Segelschiff passiert den letzten Eisberg auf grönländischem Gebiet und beschliesst, die Motoren auszuschalten. Sie fahren ganz nahe an den Eisberg ran und beobachten ihn während zwei Stunden still. «Wenn wir in zwei, drei Jahren zurückkehren, wird diese Landschaft nicht mehr die gleiche sein», sagt Zysset. Das sei schön und traurig zugleich.

Auf See kann sich alles unheimlich schnell verändern.
Autor: Nytia Zysset Matrosin

Es ist Nacht. Die Küste wird langsam kleiner, auf der Überfahrt werden sie von einem leichten Wind von 20 Knoten getragen, die Milchstrasse strahlt in voller Kraft. Bald kommt es Nitya Zysset vor, als sei Grönland nur ein Traum gewesen, ein Besuch auf einem fremden Planeten. Doch von diesem könne sie für das Leben an Land einiges mitnehmen. Vor allem: die Bereitschaft für Veränderung.

«Auf See kann sich alles unheimlich schnell verändern. Das Wetter, die Situation an Bord». Nie wisse man, was als nächstes passiert. Das zwinge einen, nicht an Erwartungen festzuhalten, sondern auf Unvorhergesehenes einzugehen und mit dem zurechtzukommen, was ist. «Obwohl das bei mir noch nicht ganz so gut klappt», lacht sie. Doch die nächste Expedition kommt bestimmt.

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