Das hat man beim Festival d’Avignon länger nicht erlebt: Deutlich schallen Buhrufe über den Hof des Papstpalasts, als die fulminante Eröffnung des wichtigsten Theaterfestivals Europas endet. Nicht wenige Zuschauer blieben nicht einmal, um ihren Unmut über das kundzutun, was die Choreografin Marlene Monteiro Freitas aus „1001 Nacht“ gemacht hat, sondern verließen vorher ihre Plätze in der beeindruckenden historischen Kulisse.

Wurde in letzter Zeit von der Theaterkritik des Öfteren beklagt, dass die Kulturbürger das Buhen verlernen und selbst mittelmäßige Inszenierungen vorschnell mit stehendem Applaus bedacht werden, kann man in Avignon ein nach guter alter Schule gespaltenes Publikum beobachten, das sich in verschiedenen Gemütsumlaufbahnen zu bewegen scheint: Kurz konsterniert, erheben sich viele Zuschauer für einen demonstrativen Durchsetzungsapplaus, der die Buhs übertönt. Und was auch immer man über „Nôt“ sagen mag, dieser Abend lässt niemanden unberührt, ja, er macht etwas mit einem.

Nur 90 Minuten dauert „Nôt“, dieses Kondensat der berühmten Geschichte von Scheherazade, die durch eine nahezu endlose Serie von Erzählungen den Tod aufschiebt, den der Sultan für seine Eine-Nacht-Bräute vorsieht. Freitas nimmt die serielle Struktur der Vorlage und übersetzt sie in Bewegungen, die wie die Mechanik einer Spieluhr ablaufen. Eine Folge von Miniszenen im Loop, unterlegt mit einem wilden Musikmix. Unheimliche Nachtgestalten bevölkern die mit ihren Gitterwänden an einen Käfig erinnernde Bühne. Die acht Tänzer tragen immer wieder Puppenmasken mit großen leeren Augen oder blutige Schürzen, das Klirren gegeneinander geschlagener Messer steigert sich zu einem nervenzerrüttenden Klimperkonzert im Stile von Philip Glass.

Trauma und Zwang

Freitas wagt einen radikalen Blick auf die Nachtseite des Lebens – auf den Kapverden, woher die Choreografin kommt, heißt „Nôt“ Nacht –, das traumatische Gefangensein im Wiederholungszwang und die Vergänglichkeit des Körpers. Klingt trostlos? Im Gegenteil. Wie Scheherazade, bei Freitas von einer Tänzerin ohne Beine verkörpert, mit ihren Geschichten den Zirkel der grausamen Hinrichtungen unterbricht, so hat auch bei Freitas die Todesangst nicht das letzte Wort, sondern Nick Cave mit „Mercy Seat“: „I’m not afraid to die“. In der Finsternis der Weltnacht ist es die Kunst, die als große Trostspenderin auftritt. Allerdings in verrätselten Bildern, die wie aus fernen Welten oder Zeiten wirken, wie Hieroglyphen, deren Übersetzung verschollen ist.

Dass sich bei Weitem nicht alle Zuschauer für die kunstmetaphysischen Botschaften von Freitas empfänglich zeigen, dürfte dem Rätselcharakter ihrer Kunst geschuldet sein. Dabei ist es – von der abstrakten Malerei über die literarische Reduktion bis zur aleatorischen Musik – immer eine der treibenden Kräfte der künstlerischen Moderne gewesen, sich selbst unverständlich zu werden und die Welt in ästhetische Rätselbilder der eigenen Existenz zu verwandeln. Dass man Freitas, die auf dem Sprung vom Geheimtipp zum Superstar ist und ab nächstes Jahr unter Matthias Lilienthal gemeinsam mit Florentina Holzinger zur Leitung der Berliner Volksbühne gehören wird („Artistic Board“ heißt der Posten offiziell), die große Eröffnung in Avignon überlassen hat, zeugt von einer Kräfteverschiebung in den darstellenden Künsten: Es ist der Tanz, dem man heute am ehesten zutraut, dieses Erbe der klassischen Moderne anzutreten.

Man hat in den vergangenen Jahren in Avignon immer wieder schwer zugängliche, fordernde bis überfordernde Theatersprachen zur Eröffnung gesehen: die surrealen Bühnenwelten von Kirill Serebrennikow, das karge Neodokumentartheater von Julie Deliquet oder die Extremperformances von Angélica Liddell. Dass es einen echten „Crowdpleaser“ im Papstpalast gab, liegt bereits vier Jahre zurück, als der jetzige Festivalleiter Tiago Rodrigues, damals noch als Gastregisseur, „Der Kirschgarten“ mit Isabelle Huppert inszenierte. Dass es seitdem immer hermetischer wurde, mit „Nôt“ als vorläufigem Höhepunkt, ließe sich auch als Versuch verstehen, einer von verschiedensten Krisen und Kriegen geplagten Welt auf der Bühne etwas entgegenzusetzen, indem man sich künstlerisch stärker gegen die Realität abdichtet.

Der Gegenentwurf zu Freitas kommt aus Deutschland, vom Schaubühnen-Intendanten Thomas Ostermeier. Mit „Die Wildente“ ist man eher bei dem Fotoautomaten, der prominent im Bühnenbild zu sehen ist. Das selten gespielte Stück von Henrik Ibsen holt Ostermeier in eine hyperrealistisch dargestellte Gegenwart, wie er es bereits mit „Nora“ oder „Ein Volksfeind“ gemacht hat, die ebenfalls in Avignon ihre Premiere feierten, bevor sie ins Repertoire nach Berlin-Charlottenburg wanderten.

Es ist die Geschichte zweier Familien, die in verschiedenen sozialen Welten leben: 5-Gänge-Menü mit Champagner in einer schicken Villa oder Butterbrot mit Bier im Mietshaus. Verbunden sind sie nicht nur durch die Drehbühne, sondern vor allem durch eine Lebenslüge. Und das ganze Stück dreht sich um die philosophische Frage, ob man besser mit der Illusion – bei Ibsen symbolisch die Wildente – oder nichts als der Wahrheit lebt. Am Ende geht beides nicht.

Wird Lüge zur Pflicht?

Was überzeugt, ist die Übertragung der widerstreitenden Ideale auf die Gegenwart: Wie verhält es sich in einer Zeit, in der die totale, transparente Kommunikation als psychopolitisches Therapeutikum angepriesen wird, mit der Kantischen Pflicht, stets die Wahrheit zu sagen? Wird sie durch die neue Pflicht, niemandes Gefühle zu verletzen, verdrängt? Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar? Ist sie das Einfache, das schwer zu machen ist, wie es an einer Stelle heißt? Oder doch nur das Deckmäntelchen eines schleimigen Sadismus? Die Gegenposition im Stück lautet, dass der Mensch zu schwach für die Wahrheit ist. Doch verbirgt sich hinter dieser hypersensiblen Rücksichtnahme nicht auch nur ein fieser Paternalismus, der die Lüge rechtfertigt?

Die an Dostojewskis „Der Großinquisitor“ erinnernden Gedankenspiele über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne sind spannend, ohne Frage. Doch an Spannung fehlt es der dreistündigen Inszenierung, deren Fotorealismus bieder und Aktualität – mit Metallica oder „Generation Praktikum“ – aufgesetzt daherkommen. Nichts drängt sich auf, nichts ist zwingend, und so bleibt der Applaus höflich und verhalten. Zwar buht auch niemand, das dürfte in dem Fall aber eher an einer wachsenden Distanz zu dieser Art des Erzähltheaters liegen, die affektiv niemanden mehr aus dem Sessel reißt.

Nun geht Erzähltheater auch deutlich frischer, wie Festivalleiter Rodrigues mit seinem Stück „La Distance“ zeigt. Auch hier geht es um Menschen, die in verschiedenen Welten leben (allerdings wörtlich), und um eine pathologische Erlösungsfantasie, jedoch nicht die Wahrheit, sondern das Vergessen: Im Jahr 2077 tauschen ein Vater und eine Tochter Nachrichten zwischen Erde und Mars aus. Er lebt in den Ruinen einer Erdenrepublik und in den Erinnerungen an eine Welt, die noch nicht nahezu unbewohnbar war, sie auf dem von einem staatgewordenen Unternehmen besiedelten Mars und in dem festen Willen, die Vergangenheit – inklusive überholter humanistischer Ideen wie der unveräußerlichen Rechte des Einzelnen – hinter sich zu lassen.

Bald bricht der Kontakt zwischen den Generationen und Welten ab. Der Mensch verschwindet wie der Fußabdruck am Strand, das bereits von Friedrich Nietzsche angestimmte Lob des Vergessens läutet die Epoche des Posthumanismus ein. Ein interessanter Blick in die – nicht allzu ferne? – Zukunft.

In Sachen existenzieller Schwere und ästhetischer Wucht ist es jedoch wieder der Tanz, der – ebenso eindrücklich wie bei Freitas und zudem vom Publikum ohne jede Einschränkung bejubelt – mit „Brel“ den Höhepunkt des Eröffnungswochenendes markiert. Unter dem Sternenhimmel im Steinbruch von Boulbon liegt eine riesige leere Bühne, nur ein Mikrofonständer im Lichtkegel steht dort als Hommage an die legendären Auftritte von Jacques Brel, dessen Chansons dem Abend die Struktur geben.

Brel singt vom Teufel, von Gott und dem Menschen, vom Land, der Liebe und dem Tod, während Anne Teresa De Keersmaeker, die Grande Dame des zeitgenössischen Tanzes, und der junge Tänzer Solal Mariotte umherwirbeln. Jede kleine Bewegung wirkt in ihrer geometrischen Strenge, für die De Keersmaeker seit ihrem Klassiker von 1982 „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich“ bekannt ist, wie ein kosmisches Ereignis.

Was bei „Brel“ zusammenkommt, ist kaum zu glauben: Chanson, moderner Tanz, Breakdance. Wie sich das auf den ersten Blick Unstimmige durch Bewegung und Musik zueinander fügt, ist schlicht umwerfend, auch im Zusammenspiel der inzwischen 65-jährigen De Keersmaeker und dem vom Hip-Hop kommenden, nicht einmal 25-jährigen Mariotte.

Vielleicht ist der Tanz auch deswegen gerade im Theater tonangebend, weil er seine Utopie nicht aus der Sprache schöpft, deren Kraft als Sinnträger heute erschöpft scheint, zudem die geschichtlichen Zeichen mehr und mehr auf Abschied von der Schriftkultur stehen. Vor politischen Analphabetismus schützt das jedoch nicht, wie man in Avignon auch sehen kann: Während beim Schlussapplaus oft eine Kufiya oder palästinensische Flagge auftauchen, ist zum Beispiel von einem Zeichen der Solidarität für den in Algerien inhaftierten Boualem Sansal nichts zu sehen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.