Wenn man den Helden der eigenen Jugend wieder begegnet, ist das so eine Sache. Und Helden waren sie, der exzentrische Charmebolzen Jarvis Cocker und seine Pulp.

Mitte der 90er-Jahre lieferte die Band aus Sheffield den Soundtrack, zu dem man mit dem Zeigefinger in der Luft die Nächte durchtanzte («Disco 2000», «Common People») oder am nächsten Tag mit Kopfschmerzen durch die abgedunkelte Wohnung schlich («Help the Aged», «This is Hardcore»).

Die britische Kultband stand in den 90ern auf dem Zenit und löste sich 2002 auf. Und nun kommt Pulp nach 24 Jahren zum ersten Mal wieder in die Schweiz und hat auch gleich neue Songs im Gepäck – im Juni ist das Album «More» erschienen.

Schrulliges Charisma

Ich gebe zu, dass ich Bammel hatte im Vorfeld des Konzerts. Was, wenn die Helden von damals nur noch ein Schatten ihrer selbst sind?

Doch in dem Moment, als Frontmann Jarvis Cocker die Bühne betritt und eine Treppe heruntertänzelt, sind sämtliche Ängste verflogen. Auf Anhieb wird klar: Cocker hat nichts von seinem schrulligen Charisma verloren.

Der geborene Entertainer

Im Gegenteil. Wer im Duden «Entertainer» nachschlägt, sollte dort eigentlich ein Bild von Jarvis Cocker finden. «I was born to perfom / It's a calling / I exist to do this / shouting and pointing» («Ich wurde geboren, um zu performen / es ist eine Berufung / Ich existiere, um dies zu tun / rufen und mit dem Finger zeigen») singt er zum Auftakt des Abends im Song «Spike Island».

Mit seiner ausgebeulten braunen Cordhose, dem Jackett und der Brille mit grossem eckigem Gestell hat der 61-jährige Cocker etwas von einem neurotischen Englischlehrer. Einer, der sich gern in grosse Posen wirft, tänzelt und sympathisch ungelenk über die Bühne schlenkert.

Mehr als Britpop

Pulp wurden in den 90er-Jahren oft in einem Atemzug mit Oasis, Blur und Suede genannt und in die Britpop-Schublade gesteckt. Doch Pulp hatte immer mehr auf dem Kasten, als eingängige Melodien und schrummlige Gitarrenriffs. Das zeigt sich auch in Montreux.

Legende: Jarvis Cocker ist mit Pulp wieder auf Tournee. IMAGO / Avalon.red

Klar doch haben Cocker und seine famose achtköpfige Band die bekannten Tanznummern wie «Mis-Shapes» und «Do You Remember The First Time» mit auf der Setliste. Damit navigieren sie in sicherem Hitgewässer. Doch rund ein Drittel der Songs stammen von der neuen Platte «More» und auch die funktionieren.

Pulp spielen glitzernde Disco-Stampfer, unterlaufen aber auch immer wieder klangliche Erwartungen. Es ist ein stilistisch vielseitiges Set, in dem auch sehr ruhige Momente («Farmers Market») und eine verschrobene und wuchtige Version von «This is Hardcore» Platz haben.

Selbstironie und Tiefgang

«Er erzählt grossartig Geschichten, auch wenn ich nichts verstehe», sagt eine Konzertgängerin. Tatsächlich war Pulp immer eine Band mit literarischem Anspruch. Wenn Jarvis Cocker seine Songtexte über menschliche Unzulänglichkeiten und Absurditäten des Alltags mit viel Selbstironie vorträgt, dann singt er nicht nur, sondern erzählt, flüstert, nuschelt, keucht und schreit in schönstem British English.

Das Publikum - so einige Britpop-Veteranen, aber auch erstaunlich viele junge Menschen - hängt Jarvis Cocker an den Lippen. Man kann schlichtweg nicht anders. Zu cool ist dieser doch eigentlich so uncoole Typ, ein zu heldenhafter Anti-Held.

Ein sehr schönes Wiedersehen war das. Bitte kommt nicht erst wieder in 24 Jahren auf Besuch, liebe Pulp, ja?

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.