In ihrem Podcast „hyped – Politik bis Popkultur“ unterhalten sich Imke Rabiega und Julian Theilen über Trends und aktuelle Debatten. Das folgende Transkript ist eine gekürzte Version der Podcastfolge „Plattenbau-Fetisch und Bibi Blocksberg als feministische Ikone“.

Julian Theilen: Heute möchte ich über eine Beobachtung sprechen, die an unser Thema von neulich – das Schokocroissant der Arbeiterklasse – anschließt.

Audio-Einspieler: Viele von euch werden es jetzt einfach nicht checken, aber ich denke mir oft, ich wäre so gerne im Plattenbau aufgewachsen. Und ich habe richtig FOMO („fear of missing out“ – die Angst, etwas zu verpassen, Anm. d. Red.) nach dem Berliner Plattenbau. Checkt ihr das?

Julian: Das war ein TikTok-Ausschnitt der 22-jährigen Influencerin Michelle Knaub. Dieser Ausschnitt wird gerade ziemlich auseinandergenommen auf Social Media.

Imke Rabiega: Man kann sich schon vorstellen, warum.

Julian: Woran denkst du, Imke, wenn du Plattenbau hörst?

Imke: Gropiusstadt, Christiane F., verlorene Jugend und Balkonkitsch, der versucht, das zu übertünchen.

Julian: Die Wäsche auf dem Balkon, weil der Wohnraum dafür zu beengt ist. Ich denke auch an den Ur-Kern von Rap. Also die Enge, die Tristesse, die Hoffnungslosigkeit, die gleichzeitig zum großen Drang führt, es da irgendwie herauszuschaffen, über Musik, das Verticken von Drogen oder was auch immer. Und gleichzeitig die starken Hierarchien, also die Einteilung von Menschen in Stark und Schwach. Hier gilt das Gesetz des Stärkeren.

Imke: Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Rohheit übt der Plattenbau eine gewisse Faszination auf die Mittelschicht aus.

Julian: Auf Akademiker, oder?

Imke: Ich bin mir nicht sicher, aber zumindest Mittelschicht, wohlhabend, behütet aufgewachsen. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich die Influencerin Michelle Knaub wünscht, das Aufwachsen in Armut erlebt zu haben.

Julian: Es gibt eine Art Unterschichtsneid. Das hat mehrere kulturelle Gründe, die in den vergangenen Jahren entstanden sind.

Imke: Einerseits ist die Platte ein ästhetischer Gegenentwurf zu der Hochglanz-Inszenierung, wie wir sie heute überall auf Social Media sehen. Also schicke Restaurants und die typischen Porsche-Status-Symbole, Cartier-Ringe, Louis-Vuitton-Taschen. Das Neureiche.

Julian: Eine schicke, glatte Instagram-Welt. Für mich ist es da schon naheliegend, dass man versucht, da ein bisschen Würze hineinzubringen. Es handelt sich um eine Sehnsucht nach einer Brüchigkeit in der eigenen Biografie, die es nicht gibt. Weil man keine Widerstände überwinden musste.

Audio-Einspieler: Wisst ihr, wie ekelhaft ich es finde, wenn privilegierte Menschen davon sprechen, dass sie in Blockhäusern wohnen wollen und die Armut dort romantisieren? Als Kind hatte das schon etwas Schönes, wenn so viele Kinder in einem Block gewohnt haben, alle hinausgegangen sind im Sommer und Fußball gespielt haben. Aber je älter man geworden ist und je mehr man verstanden hat, was für ein Leben man in Deutschland im Vergleich zu anderen hat und welche Probleme die eigenen Eltern haben und man sich in seiner Klasse für seine Wohnung schämen muss, desto weniger Spaß macht es. Diese Armut, diese Härte, diese Kälte, die soziale Ungleichheit, das würdet ihr nicht mal einen Tag aushalten.

Julian: Dieser TikTok-User kritisiert die sichere Distanz, aus der Michelle Knaub Armut romantisiert. Aber warum wird Armut so fetischisiert? Warum finden gerade die, die nicht in ihr aufgewachsen sind, Armut total sexy?

Imke: Vielleicht geht es hier auch um Coolness. Um das Sich-Durchschlagen-Müssen, und zwar ohne Sicherheitsnetz, das einen im Zweifel auffängt.

Julian: Ich glaube auch, dass der Siegeszug von Straßenrap in den letzten 15 Jahren etwas damit zu tun hat. Haftbefehl und Co. Auf einmal haben sogar die bürgerlichen Feuilletonisten das Getto als Erzählung entdeckt. Dann kam die Serie „Four Blocks“, die in Berlin-Neukölln spielt.

Imke: Auch die Mode sucht immer mehr den Weg ins Getto, Balenciaga 2022 zum Beispiel mit ihren Luxus-Mülltaschen.

Julian: Die aber immer von den Eliten getragen wurde, das ist ja das Spannende.

Imke: Lars Eidinger mit seiner Aldi-Tüte zum Beispiel. Ein ganz pragmatischer Grund, warum die Ästhetik der Platte in unserer digitalisierten Welt so interessant erscheint, ist der gute Kontrast, den sie zur visuellen Darstellung der iPhone-Kamera erzeugt. Vor grauem Beton-Hintergrund leuchtet die Prada-Tasche doppelt so stark.

Julian: Die Romantisierung von Armut hat auch eine psychologische Funktion. Die Erzählung vom gesellschaftlichen Aufstieg ist so wirkmächtig, hat so einen Sorg, dass man sich am liebsten einreden möchte, dass man den Aufstieg durch eigenes Zutun geschafft hat und nicht, weil die eigenen Eltern etwa Akademiker sind. Deshalb fantasiert man sich eine Armutsbiografie herbei. Mir selbst ist das auch schon mal passiert. Irgendwie glaubte ich, meine Biografie dadurch aufzuwerten. Weil man mehr Anteil am eigenen Schicksal hat. Im Endeffekt ist das die ekelhafteste Form der Eitelkeit.

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