Wir sind den Beduinenstämmen für ihr heldenhaftes Vorgehen gegen drusische Verbrechergruppen dankbar“, sagte der syrische Interimspräsident Ahmed al-Scharaa in einer Fernsehansprache und öffnete damit endgültig die Büchse der Pandora. Anstatt nach den tagelangen Kämpfen zwischen Beduinen und Drusen in der Provinz Suweida beide Konfliktparteien zur Ordnung zu rufen, heroisierte er die sunnitischen Stämme.
Und die fühlten sich berufen, den bereits ausgehandelten Waffenstillstand zu ignorieren und auf „Drusen-Jagd“ zu gehen, wie in zahlreichen Internetvideos zu sehen war. Zu Tausenden kamen Stammeskämpfer aus allen Teilen Syriens, um am vergangenen Donnerstag in die hauptsächlich von Drusen bewohnte Region südlich von Damaskus einzudringen.
Dies war schon die zweite Angriffswelle innerhalb einer Woche auf die Glaubensgemeinschaft, die im 11. Jahrhundert aus dem Islam hervorging. In den Augen radikaler Islamisten aber sind Drusen Ungläubige, die man straflos töten kann. Die Stämme begründeten die Mobilisierung mit Verbrechen, die die Drusen an den Beduinen begangen hätten. Dabei kann man aufgrund von Augenzeugenberichten und dem Videomaterial davon ausgehen, dass Stammeskämpfer und Regierungssoldaten für die meisten Gräueltaten in Suweida verantwortlich sind.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) zählte seit Beginn der Zusammenstöße am 13. Juli über 1200 Opfer, wovon mehr als die Hälfte aus Suweida stammen. Mindestens 200 davon wurden exekutiert. Darunter waren 28 Frauen, acht Kinder und ein älterer Mann. Häuser in mehr als 20 drusischen Dörfern sollen geplündert und niedergebrannt worden sein. Mehr als tausend Autos, Kleinlaster und Traktoren sollen gestohlen worden sein. Es war eine „Orgie der Gewalt“, wie eine britische TV-Reporterin aus Suweida berichtete.
„Für die Sicherheit in diesem Gebiet ist die Regierung zuständig“, hatte Präsident al-Scharaa verkündet. Aber mehr als eine Woche war davon nichts zu spüren. Im Gegenteil: Übereinstimmenden Berichten zufolge beteiligten sich verschiedene Einheiten der Regierung an den Kämpfen gegen die Drusen. Erst am Montag beruhigte sich die Lage in Suweida, nachdem unter Mitwirkung der USA ein Waffenstillstand zustande gekommen war.
Damaskus errichtete Checkpoints an den Zufahrtsstraßen in die Provinz Suweida, in der bis zu 700.000 Drusen leben. Zuvor hatte das israelische Militär interveniert mit Dutzenden von Luftschlägen auf Konvois der syrischen Sicherheitskräfte und einem Beschuss des Verteidigungsministeriums in Damaskus. In Israel leben rund 150.000 Drusen, die als loyale Minderheit gelten und häufig in der Armee dienen. „Die Angriffe auf Ziele des Regimes in Suweida und Damaskus waren die einzige Möglichkeit, das Massaker an Drusen in Syrien zu stoppen“, sagte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz.
Die „Orgie der Gewalt“ in Suweida ist schon das zweite Massaker seit der Machtübernahme von Präsident al-Scharaa und seiner HTS-Miliz im Dezember vergangenen Jahres. Im März waren über 1700 Menschen an der Mittelmeerküste ermordet worden, die zu den Alawiten gehörten – eine Glaubensgemeinschaft zu der auch der gestürzte syrische Diktator Baschar al-Assad angehörte.
Nach den Ereignissen in Suweida ist nun das Vertrauen in die Regierung bei liberalen Sunniten und insbesondere bei den zahlreichen Minderheiten in Syrien endgültig erschüttert. Al-Scharaa hatte der Inklusion aller ethnisch-religiösen Gruppierungen versprochen, aber jetzt wurde bereits die zweite Minderheit zur Zielscheibe. Drusische Geistliche sprachen von einem „Genozid“.
Präsident al-Scharaa scheint keine Kontrolle über das Land zu haben, dessen Einheit er immer wieder beschwört. Er hat weder die Stämme im Griff, die ein wichtiger Bestandteil der syrischen Gesellschaft sind, noch seine eigenen Milizen, die die neue syrische Armee repräsentieren sollen. Al-Scharaa gefährdet damit, was er international auf diplomatischer Bühne in den Monaten nach seinem Machtantritt erreicht hat.
Der ehemalige Dschihadist hat versprochen, diejenigen, die in Suweida Verbrechen begangen haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Aber dies hatte er auch nach dem Massaker im März an den Alawiten getan. Die eingesetzte Untersuchungskommission hatte am Sonntag nach fast vier Monaten endlich al-Scharaa den Bericht übergeben. Hätte man sich nicht so lange Zeit gelassen, hätte es die Vorfälle in Suweida vielleicht gar gegeben. Die Frage ist auch, wie viele der Beteiligte jetzt auch bestraft werden.
Der Untersuchungsausschuss teilte mit, dass zwei Listen mit Verdächtigen an die Staatsanwaltschaft übermittelt wurden, und empfahl die strafrechtliche Verfolgung der Flüchtigen. Bestätigt sind 1426 Todesfälle, darunter Zivilisten und ehemalige Militärs, 20 Personen werden vermisst. Obwohl die Verstöße weit verbreitet waren, stellte der Ausschuss fest, dass sie nicht systematisch waren.
Die USA sind in Sorge
Aufgrund der jüngsten Ereignisse in Suweida sind die USA von ihrer bisherigen Position ein Stück weit abgerückt. Tom Barrack, Washingtons Sondergesandter für Syrien, hatte zuvor noch für eine nahezu bedingungslose Unterstützung der neuen Regierung geworben. Nun nahm er sie in die Pflicht, für ihr Versagen die Verantwortung zu übernehmen. „Die syrische Regierung muss zur Rechenschaft gezogen werden.“ Auch US-Außenminister Marco Rubio schlug plötzlich andere Töne an. „Die Vergewaltigung und das Abschlachten unschuldiger Menschen müssen ein Ende haben“, forderte er auf X.
Jeder, der sich an Gräueltaten beteiligt habe, auch die aus den eigenen Reihen, müsse man zur Rechenschaft ziehen. Seine Reaktion dürfte mit darauf zurückzuführen sein, dass in Suweida auch amerikanische Staatsbürger und Christen ermordet wurden.
In Washington scheint sich der Wind zu drehen. So forderte der Republikaner Abraham Hamadeh in einer öffentlichen Erklärung, dass die syrische Regierung den Worten endlich Taten folgen lassen müsse. „Wenn sie weiter Legitimität besitzen will, muss sie die Ordnung wieder herstellen und alle ihre Bürger schützen“, schrieb der US-Kongressabgeordnete. Er verwies dabei auf die „bahnbrechenden Schritte und den guten Willen“, den die USA gegenüber Syrien gezeigt hatten, „in der Hoffnung auf echte Reformen“.
Das Weiße Haus hatte das Kopfgeld auf den „Terroristen“ al-Scharaa alias Abu Mohammed al-Dscholani über zehn Millionen Dollar unmittelbar nach seinem Machtantritt im Dezember gestrichen. Erst jüngst wurde auch seine HTS-Miliz von der Liste ausländischer Terrorgruppen genommen.
Sanktionen wurden schnell aufgehoben
Die USA hoben zudem einen großen Teil der seit Jahren bestehenden Sanktionen auf, was eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Neuaufbau Syriens ist. Vor einer Woche brachten Abgeordnete im Kongress einen Resolutionsentwurf ein, der die vollständige Aufhebung aller restlichen Sanktionen vorsieht. Es könnte sein, dass Washington die Aufhebung dieser letzten Strafmaßnahmen nun als Druckmittel einsetzt, um von Damaskus Rechenschaft und Reformen zu erzwingen.
Die Minderheiten Syriens dürften einen derartigen Schritt begrüßen. Die Drusen und auch die Kurden, die rund ein Drittel des Landes im Nordosten kontrollieren, stehen im Mittelpunkt eines Propagandafeldzugs der Regierung. Beide Gruppen werden beschuldigt, die Spaltung des Landes voranzutreiben. Dabei plädieren sie nur für ein föderales System, das das syrische Staatswesen grundsätzlich nicht infrage stellt.
Der Scheich wird zum Feindbild
Die syrische Propaganda stilisierte einen Mann zum Feindbild, Scheich Hikmat al-Hijri, den ranghöchsten drusischen Geistlichen im Land. Er wird fälschlicherweise beschuldigt, einen eigenen Drusen-Staat gründen zu wollen. Zudem soll er Milizenführer sein, der gezielt Verbrechen an Zivilisten befohlen und im Alleingang gegen syrische Sicherheitskräfte und Beduinen gekämpft habe. Das weisen die Drusen zurück.
Al-Hijri stellte zwar die Legitimität der „HTS-Regierung“ infrage und bat Israel um Hilfe. Aber er bleibt ein spiritueller Führer, wie die anderen ranghöchsten Scheichs der Drusen auch. Das Narrativ der „Spaltung Syriens“ könnte auch schon bald als Vorwand dienen, die Kurden anzugreifen.
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Osten, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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