Am Dienstag gingen in Kiew, Lwiw, Dnipro und Odessa tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung zu protestieren. Stunden zuvor hatte das ukrainische Parlament, in dem Wolodymyr Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ eine Mehrheit innehat, für ein Gesetz gestimmt, das die zwei wichtigsten Anti-Korruptionsbehörden entmachtet: das nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft (SAPO).

Beide Institutionen verlieren ihre Unabhängigkeit, weil das Gesetz sie dem Oberstaatsanwalt unterordnet. Dieses Amt wiederum wird in der Ukraine vom Präsidenten besetzt und vom Parlament bestätigt. In den sozialen Medien wurden Bilder verbreitet, die Selenskyj neben Janukowitsch zeigen, dem geschassten Ex-Präsidenten, der 2014 nach Russland geflohen war. Die Botschaft hinter den Bildern: Selenskyj ist ein Verräter, der wichtige demokratische Reformen rückgängig macht.

Ginge es nach dem Präsidenten, sollten die Ukrainer dieser Tage eher über die neu eingesetzte Premierministerin Julija Swyrydenko diskutieren. Der Regierungswechsel sollte neue Dynamik in die vom Krieg erstarrte Politik bringen und den Unzufriedenen beweisen, dass Machtwechsel in der Ukraine immer noch möglich sind. Doch vielen Menschen reicht das nicht.

„Die Behörden müssen von russischer Einflussnahme bereinigt werden“, verteidigte sich Selenskyj in einer Videoansprache in der Nacht auf Mittwoch, als er verkündete, die Anti-Korruptionsbehörden entmachten zu wollen. Auf Proteste und Kritik an seinem Vorgehen ging er nicht ein. Stattdessen kritisierte er die Behörden, die Strafverfolgung von ins Ausland geflüchteten Beamten zu verschleppen.

„Ein schwerwiegender Rückschritt“

Am Montag hatte der Inlandsgeheimdienst SBU gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft 80 Razzien bei Mitarbeitern des Anti-Korruptionsbüros durchgeführt. Insider in Kiew vermuten, dass Selenskyj die Durchsuchungen befahl, weil die Behörde im Umfeld seiner Freunde und Mitstreiter ermittelt hatte.

Das Antikorruptionsbüro NABU und die Sonderstaatsanwaltschaft waren im Zuge der prowestlichen Reformen nach den Euromaidan-Protesten von 2014 gegründet worden. Sie sollten Korruptionsfälle bis in die obersten Ränge der Regierung aufdecken. Generalstaatsanwalt Ruslan Krawtschenko beteuerte auf einer Pressekonferenz, er werde sich nicht in die Ermittlungen einmischen. „Warum vertraut ihr mir nicht?“, fragte er die Journalisten.

Für Anti-Korruptionsaktivisten wie Witalij Schabunin von der Nichtregierungsorganisation Anti-Corruption Action Center klingt das wie Hohn. „Selenskyjs Generalstaatsanwalt wird die Ermittlungen gegen Präsidentenfreunde stoppen“, schrieb er bei Facebook. Als Präzedenzfall für Eingriffe durch die Regierung dient vielen der Umgang mit dem Vizechef der Präsidialadministration Oleh Tatarow, gegen den Ermittlungen wegen des Verdachts der Korruption liefen. 2020 wurden sie der NABU entzogen und 2021 per Gerichtsbeschluss eingestellt.

Auch international folgte prompt Kritik an Selenskyjs Vorstoß. EU-Kommissionssprecher Guillaume Mercier sagte, man sei „besorgt über die jüngsten Maßnahmen der Ukraine“. Marta Kos, EU-Kommissarin für Erweiterung, östliche Nachbarschaften und den Wiederaufbau der Ukraine, kritisierte: „Der Abbau zentraler Schutzmechanismen zur Wahrung der Unabhängigkeit der NABU ist ein schwerwiegender Rückschritt. Unabhängige Institutionen sind entscheidend für den EU-Kurs der Ukraine. Rechtsstaatlichkeit steht im Zentrum der Beitrittsverhandlungen.“

Die EU-Politiker sprechen damit eine Warnung aus – wenn auch diplomatisch formuliert: Sollte Selenskyj seinen derzeitigen Kurs fortsetzen, kommt ein EU-Beitritt nicht infrage. Die Entwicklungen spielen Gegnern eines EU-Beitritts in die Hände, etwa dem ungarischen Präsidenten Viktor Orbán. Sie liefern neue Argumente für alle, die die Ukraine auch nach elf Reformjahren für unbeweglich und korrupt halten. Aber auch Beitrittsbefürworter könnten nun Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine hegen.

Was für die Europäer ein Skandal ist, interessiert die Amerikaner wohl weniger. Donald Trump, der in seinem eigenen Land einen zunehmend autoritären Staatsumbau betreibt, dürfte sich an Selenskyjs innenpolitischen Kontroversen kaum stören. Der ukrainische Präsident scheint darauf zu hoffen, dass die Europäer in dieser Angelegenheit letztlich dem Kurs Washingtons folgen werden.

Doch selbst wenn Selenskyj zurückrudern sollte, ist die Machtkonzentration um seine Person enorm. Seit Langem lehnt er eine Einheitsregierung ab, an der sich alle Parteien im Parlament beteiligen würden – obwohl er so seine Macht legitimieren könnte. Denn eigentlich hätte sich der Präsident im Frühjahr 2024 Wahlen stellen müssen. Auch die Wahl eines neuen Parlaments ist überfällig. Doch laut Verfassung sind Wahlen im Kriegszustand verboten. Die Europäer akzeptieren das bisher. Russland nutzt dies gern als Vorwand, um Selenskyj die Legitimität abzusprechen.

Faktisch regiert der ukrainische Präsident seit 2019 mit seiner Mehrheit im ukrainischen Parlament durch. Die Macht konzentriert sich auf Selenskyj und dessen Präsidialadministration unter Andrij Jermak. „In diesem System ist es unerheblich, wie der Premierminister heißt“, schreibt der Ukraine-Kenner Konstantin Skorkin in einer Analyse für die amerikanische Denkfabrik Carnegie. Er hält den jüngsten Einsatz einer neuen Premierministerin für bedeutungslos. „Außerhalb der Machtvertikale des Präsidenten“ sei die Macht von Parlament und Gerichten „verkümmert“.

Selbst wenn Selenskyj also seine Neuerungen zurücknimmt, würde das nichts am derzeitigen System ändern. Eines, in dem politische Entscheidungen in einem engen Machtzirkel rund um den Präsidenten getroffen werden.

Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.

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