Friedrich Merz war Anfang Mai kaum im Amt, da sprang er schon ins Flugzeug, um Emmanuel Macron seinen Antrittsbesuch abzustatten. Der deutsche Bundeskanzler wollte damit signalisieren, dass die deutsch-französischen Beziehungen wieder zählen. Von einem Reset, einem Neubeginn war die Rede. Durch die charakterliche sowie politische Nähe und vergleichbare Berufserfahrungen der beiden Männer hatte die Verbindung Paris-Berlin fast wieder etwas Romantisches.

Auch das Programm von Macrons Gegenbesuch am Mittwoch liest sich eher wie ein Ferientermin. Gemeinsamer Spaziergang am Tegeler See, Jazzkonzert, Abendessen in der Borsig-Villa, nicht im Kanzleramt.

Es sieht fast so aus, als wolle man die deutsch-französische Wiederbelebung mit Schaumwein begießen. Doch auf dem Menüplan des Arbeitsessens, das als Vorbereitung des deutsch-französischen Ministerrats Ende August gilt, stehen viele Themen, über die man regelmäßig streitet. Allen voran die Verteidigung.

Macron setzt sich für europäische Rüstungsindustrie ein

Exemplarisch für die Differenzen zwischen Berlin und Paris sind die aktuellen Bemühungen der Alliierten, mehr Patriot-Abwehrsysteme für die Ukraine zu organisieren. Deutschland treibt die Initiative an, überlässt Kiew dafür Systeme aus eigenen Beständen und wird wohl die finanzielle Hauptlast tragen. Details sind zwar noch unklar, mehrere nordeuropäische Länder sowie Großbritannien und Kanada signalisierten aber Unterstützung für die Initiative. Paris beteiligt sich nicht an dem Vorhaben.

Überraschend ist das nicht: Macron ist schon seit Langem davon überzeugt, dass man sich nicht länger auf die USA verlassen könne und setzt sich für eine unabhängige europäische Rüstungsindustrie ein. Ein Prinzip, das mit Trumps Amtsantritt viele Fürsprecher gefunden hat und Macron im Nachhinein recht gibt.

Und obwohl Macron in Merz einen Unterstützer für seine Vision der „strategischen Autonomie“ gefunden hat, vertritt der Bundeskanzler weiter den Grundsatz, dass die amerikanischen Systeme zumindest zurzeit konkurrenzlos sind – und die Ukraine im russischen Zermürbungskrieg dringend auf sie angewiesen ist.

„Die französischen Luftabwehrsysteme liegen 20 Jahre hinter den amerikanischen zurück“, kritisiert der italienische Militärexperte Thomas C. Theiner. „Angesichts der akuten Bedrohungslage“ könne die Ukraine aber nicht darauf warten, dass die Europäer es schafften, ihre Produktion hochzufahren und leistungsfähige eigene Systeme zur Abwehr von ballistischen Raketen entwickeln.

Frankreich hat beim Blick auf die strategische Autonomie Europas zudem auch immer seine eigene Rüstungsindustrie im Auge. Das zeigt sich gerade wieder beim gemeinsamen Kampfjet FCAS (Future Combat Air System), an dem auch Spanien beteiligt ist. Seit der Ankündigung 2017 gab es immer wieder Ärger und Verzögerungen.

Der Politik gelang es nicht, die Streitereien auf industrieller Ebene zu schlichten. Immer wieder kam es zu Verteilungskämpfen zwischen dem französischen Hersteller Dassault und der deutschen Abteilung von Airbus. Deutsche und Spanier werfen den Franzosen vor, das Projekt an sich zu reißen. Von „einseitigem französischen Dominanzstreben“ ist die Rede.

Berichte, wonach Frankreich die Kontrolle von 80 Prozent der Produktion anstrebe, wies der französische Dassault-Chef Éric Trappier am Dienstag zurück. Gleichzeitig droht er mit dem Aus des Projekts. Bei der Halbjahrespressekonferenz des Konzerns Dassault Aviation forderte er eine klare Führungsrolle für das Projekt.

„Nennen Sie mir ein einziges Beispiel eines ambitionierten Industrieobjektes in der Welt, bei dem es keinen Leader gibt“, so Trappier. Die Frage, ob ein einseitiger Ausstieg drohe, beantwortet der Franzose bewusst vage. Würde das Projekt scheitern, wäre das ein fatales Signal in Zeiten, in denen man militärisch zusammenrücken und gegenüber Moskau Einigkeit demonstrieren will.

Polen wird vernachlässigt

Das galt zuletzt vor allem in Sachen atomarer Abschreckung. Briten und Franzosen haben sich im sogenannten Northwood-Abkommen auf eine engere Kooperation geeinigt und Moskau damit signalisiert, dass man gemeinsam und abgestimmt auf Attacken Europas reagieren werde. Bei seiner jährlichen Rede vor der Armee kündigte Macron „neue Entscheidungen“ auf dem deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungsrat an, der parallel zum gemeinsamen Ministerrat Ende August tagt.

In der kürzlich veröffentlichten, aktualisierten nationalen Sicherheitsstrategie Frankreichs wird eine Überprüfung der Zahl der atomaren Sprengköpfe angeregt. Bislang hielten es Experten für unwahrscheinlich, dass sich Paris teure Investitionen in seine „force de frappe“ von europäischen Partnern mitfinanzieren lässt. Angesichts der katastrophalen Haushaltslage des Landes und der klaren Worte, dass der britisch-französische Atomschirm ein europäischer sei, könnte man von diesem Prinzip abrücken. „Frankreich wird nicht für die Sicherheit der anderen bezahlen“, sagte Macron jüngst in einem Interview.

Die wieder aufgeflammte Liebe des deutsch-französischen „couple“ – wie die Franzosen den Motor nennen – führt zur Vernachlässigung des Dritten im Bunde: Polen. Zu Anfang seiner Kanzlerschaft setzte sich Merz noch kräftig ins Zeug, als er die Wiedergeburt des Weimarer Dreiecks beschwor und direkt nach seiner Antrittsreise in Paris auch Warschau besuchte.

Doch die anfängliche Dynamik hat sich verflüchtigt, das Tandem wirkt ausgebremst. In der Präsidentschaftswahl sah sich der von Premierminister Donald Tusk unterstützte, aber unterlegene Kandidat, einer deutschfeindlichen Stimmung ausgesetzt. Nach dem Sieg des EU-kritischen nationalkonservativen Kandidaten Karol Nawrocki bleiben Reformen schwierig.

Unmut in Polen lösten außerdem die von der Bundesregierung zunächst einseitig durchgesetzten Grenzkontrollen aus. Warschau sah sich gezwungen, nachzuziehen. Dass Merz zu Beginn seiner Kanzlerschaft gemeinsam mit dem britischen Premier Keir Starmer und Macron in einem Zug Richtung Kiew aufbrach, während Tusk in einem anderen hinterherfuhr, geriet zum Sinnbild für die abgekühlten Beziehungen.

Inzwischen herrscht der Eindruck, dass nicht mehr das Weimarer Dreieck im Zentrum steht, sondern die Wiederbelebung eines anderen Modells: das E3-Format, bestehend aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die von Macron, Merz und Starmer angestrebte intensivere trilaterale Zusammenarbeit, insbesondere in Fragen der Verteidigung, erscheint wie ein exklusiver Dreierclub.

Polen wie auch Italien sind bisher nur im erweiterten sogenannten E3-Plus-Format vorgesehen. Militärexperte Theiner hält das für einen Irrweg, insbesondere angesichts der militärischen und strategischen Bedeutung Polens als Frontstaat an der Nato-Ostflanke.

„Berlin und Warschau haben verstanden, dass es drei bis vier Prozent für die Wiederbewaffnung des Kontinents braucht, um die Ukraine im Krieg gegen Russland zu unterstützen – und um Europa besser schützen zu können. Macron dagegen löst seine verteidigungspolitischen Versprechen nicht ein und schafft es nicht, seine unterfinanzierte Armee besser auszustatten“, so Theiner. Die von Macron Mitte Juli angekündigte Verdopplung des französischen Haushalts auf 64 Milliarden Euro bis 2027 hält er für ungenügend: „Der Wert bezieht sich auf den Stand von 2017 und ist damit nicht ausreichend.“

Nicht Frankreich, sondern Polen sei das Zugpferd bei der europäischen Verteidigung, so der Experte. Polen steht bei den Verteidigungsausgaben in der Nato mit rund vier Prozent des BIP an der Spitze, Frankreich und Deutschland erreichten nur knapp das Zwei-Prozent-Ziel.

Theiner warnt davor, die von Paris bis Warschau reichende europäische Achse zu vernachlässigen. „Wollen Merz und Macron Europa stärken, geht das nicht ohne starke Partner wie Polen. Aktuell aber fühlen sich die Polen bei ihren Bemühungen von Westeuropa inklusive Berlin alleingelassen.“

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.

Diana Pieper ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf Europa.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.