In einer Hinsicht macht es für Hagit und Ruby Chen keinen Unterschied, ob ihr Sohn tot ist oder noch lebt. „Für uns, die Angehörigen, sind es weiterhin 50 Geiseln, unabhängig von ihrem Zustand. Wie viele noch leben, weiß in Wahrheit niemand“, sagt Hagit, die Mutter von Itay Chen, der als Soldat der israelischen Armee am 7. Oktober 2023 in seinem Panzer den Angriff der Hamas und von weiteren Bewohnern von Gaza auf Israel abwehrte und der seither als vermisst gilt.
„Es gibt von 20 noch Lebenszeichen, aber das bedeutet nicht, dass nicht noch mehr am Leben sind“, sagt Hagit. „Es tut mir sehr weh, wenn Trump oder Netanjahu oder irgendwer sonst die anderen herausrechnet. Es sind 50 Geiseln, nicht die 20, von denen die Staatsmänner oft reden.“ Natürlich habe die Armee ihnen mitgeteilt, dass Itay mit hoher Wahrscheinlichkeit schon bei den Kämpfen am 7. Oktober getötet wurde.
Aber es sei nicht klar, worauf sich diese Angabe bezieht. Man habe ihnen keine forensischen Beweise für Itays Tod vorgelegt. In seinem Panzer sei er nicht gefunden worden und die Hamas habe sich nie dazu geäußert, ob er getötet wurde, oder ob er sich noch in ihrer Gewalt befinde. „Darum sagen wir auch nie ‚seligen Angedenkens‘ nach seinem Namen, wie es Juden bei Verstorbenen tun.“ Und Hagit fügt hinzu: „Wir wollen ihn zurückhaben, egal ob er noch lebt oder nicht, damit der Heilungsprozess in unserer Familie beginnen kann.“
Dieser Appell richtet sich nicht nur an die Hamas, er richtet sich auch an die Bundesregierung. Denn Itay besaß auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Und die Familie Chen fordert mehr Engagement von Berlin.
Sieben der Hamas-Geiseln sind nicht nur Israelis, sondern auch Deutsche. Diese weitere Staatsangehörigkeit haben sie, weil ihre Vorfahren einst aus Deutschland vor den Nazis fliehen mussten, so wie die Großmutter von Itay, die in Bad Reichenhall geboren wurde. Die Ampel-Regierung war dem Grundsatz gefolgt, dass keine Geisel wichtiger sein dürfe als eine andere, und dass sich Deutschland anders als die USA oder Thailand nicht gesondert für ihre Staatsbürger einsetzen solle, sondern Israel als Verhandlungsführer folgen würde.
Aktivere Rolle von Berlin gefordert
Die Regierung Merz hat zumindest die Rhetorik in dieser Frage geändert. Immer wieder weisen Außenminister Johann Wadephul und Bundeskanzler Friedrich Merz in ihren Stellungnahmen auf die Deutschen in der Gewalt der Hamas hin. Sie erführen viel Empathie aus Berlin, sagen die Chens, auch vom deutschen Botschafter Steffen Seibert. Doch die Chens wollen noch mehr.
„Wir glauben, Deutschland könnte und sollte eine noch aktivere Rolle in den Verhandlungen um die Geiseln übernehmen“, sagt Ruby Chen, der Vater von Itay. Die bisherigen Vermittler – die USA, Katar, Ägypten – versuchten schon seit 22 Monaten eine Einigung zwischen Israel und der Hamas zu vermitteln, aber noch immer seien 50 Geiseln in den Händen der Terrororganisation – unter schrecklichen Bedingungen, wie das Video der Geisel Rom Braslavski am Wochenende gezeigt habe.
„Vielleicht muss man die Verhandlungskonstellation verändern“, sagt Ruby Chen. Immerhin seien sieben der 50 Geiseln Deutsche, also ein bedeutender Anteil. „Nach fast zwei Jahren braucht Berlin einen Plan B. Deutschland hat eine moralische und juristische Verpflichtung, für seine Staatsbürger zu sorgen. Deutschland sollte erwägen, parallel zum existierenden Vermittlungsprozesses selbst um die deutschen Geiseln zu verhandeln“, sagt Chen. Aber er hat noch mehr Vorschläge.
Ruby Chen kennt sich aus mit internationalen Finanzströmen. Er hat in leitender Position für einen amerikanischen Investor im High-Tech-Bereich gearbeitet. Und er hat, wie er sagt, einen Geheimdiensthintergrund. Genauer will er diesen Teil seiner Berufserfahrung nicht erläutern, schließlich geht es nicht um ihn, sondern um Terrorfinanzierung.
Der Hebel gegen die Hamas
„Wie kann es sein, dass die Hamas noch immer Monat für Monat Zehntausenden ihrer Anhänger Gehälter zahlen kann? Woher kommt dieses Geld?“, fragt Ruby Chen. Es gebe mehrere Finanzierungs-Kanäle: Zahlungen von religiösen Stiftungen in der islamischen Welt, zweckentfremdete Hilfsgelder von EU-Körperschaften und anderen humanitären Akteuren, aber auch Spenden von zahllosen Einzelpersonen im Ausland. Vor dem 7. Oktober habe die Hamas über ein Budget von etwa zwei Milliarden Dollar im Jahr verfügt. Ihr Spendenaufkommen dürfte sich seit dem Angriff nicht verringert haben, glaubt Ruby Chen.
Viele der Gelder von Kleinspendern und Stiftungen flössen über ein Finanzsystem, das terroristischen Zwecken diene, das üblicherweise auch mit dem globalen Banken-System verknüpft sei. „Hier sind europäische Länder sehr einflussreich. Deutschland könnte mehr tun, um die Finanzflüsse an die Hamas zu unterbrechen“, sagt Ruby Chen.
Ein bedeutender Teil dieser Gelder flössen über die Türkei. Die USA hätten schon ein halbes Dutzend meist europäischer Entitäten mit Sanktionen belegt, die bei der Finanzierung der Hamas geholfen haben. „Da stellt sich die Frage: Was tut Deutschland? Die deutschen Behörden wissen um die Rolle der Türkei. Im Bundesinnenministerium gibt es ja eine Einheit gegen Terrorfinanzierung. Aber es braucht auch politische Entscheidungen. Die Bundesrepublik sollte ihren Einfluss in der Türkei nutzen, um die Geldströme der Hamas trocken zu legen.“
Innerhalb der EU müsse sich Berlin dafür stark machen, ebenfalls Finanzsanktionen wegen der Finanzierung der Hamas zu verhängen. Auch die Sanktionen der USA wären noch weitaus effektiver, wenn die EU sich dem anschließen würde. „Schließlich ist nicht auszuschließen, dass auch über deutsche Banken Gelder zur Terrorfinanzierung fließen. Wenn diese Mittel für Terrorzwecke eingesetzt werden, können sie in der Zukunft auch Deutschland gefährden.“
Die Sanktionen sind der konkrete Punkt, an dem die Chens aktiv geworden sind. Sie haben schon im Bundesinnenministerium dazu vorgesprochen. Aber natürlich nehmen sie auch die großen Entwicklungen in Sachen Gaza wahr. „Wenn Deutschland einen Staat Palästina anerkennen würde, wäre das ein Rückschlag für die Bemühungen um eine Freilassung der Geiseln“, sagt Hagit Chen. „Das wäre eine Belohnung für die Hamas, ihren Angriff, ihre Geiselnahmen.“
Sie begrüße den deutschen Ansatz, wonach die humanitäre Krise im Gaza-Streifen beendet müsse, bevor man die Diskussion über eine Zwei-Staaten-Lösung beginnen könne. „Freilassung aller Geiseln und sicherstellen, dass die Menschen in Gaza ausreichend Nahrungsmittel erhalten – darum muss es jetzt gehen.“ Die Haltung der israelischen Regierung scheint den Eltern von Itay Sorgen zu machen. Vor allem die Pläne für eine Ausweitung der Kämpfe und eine Besetzung des Gaza-Streifens.
„Wir sind auch mit Donald Trumps Unterhändler Steve Witkoff im Kontakt“, sagt Ruby Chen. „Er sagt, das Ziel der USA sei ein Deal für ein dauerhaftes Ende des Krieges und die Freilassung aller Geiseln. Was die israelische Regierung gerade plant, scheint nicht zu diesem Plan zu passen.“ Der Mehrheit der Bevölkerung sei die Gefahr für die Geiseln durch eine neue Großoffensive bewusst. „Aber wir sind sehr vorsichtig mit unseren Äußerungen zum Kriegsgeschehen.“
Sicher sei aber: Die Angst der Geiselfamilien wächst, wenn sie von einer neuen Offensive hören. Der neue große Waffengang könne die noch lebenden Geiseln gefährden. „Und sie kann auch die Chance verringern, noch jemals die sterblichen Überreste der Getöteten zu finden und zu bestatten“, sagt Ruby Chen. „Was, wenn der einzige Hamas-Angehörige getötet wird, der noch weiß, wo der Leichnam einer Geisel versteckt ist?“
Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.
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