Die jungen Männer tragen Wehrmachtsuniformen – und einige von ihnen lächeln. Wer die Räume der Ausstellung „Nasi chlopcy“, zu Deutsch „Unsere Jungs“, im Danziger Rathaus betritt, sieht zuerst Fotos von Polen, die nach dem Überfall Deutschlands auf sein Nachbarland 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurden.

Es ist für viele Polen ein Skandal: Dass vormals polnische Staatsbürger in der Armee der Täter gedient haben; dass einige von ihnen auf den Bildern lächeln – wie, fragt man sich in Polen, soll es da glaubhaft sein, dass viele von ihnen zwangsrekrutiert wurden? Und dann auch noch der Titel „Unsere Jungs“. Zur polnischen Nation sollen diese Männer also gehört haben?

„Es ist eine kleine Ausstellung, eigentlich vor allem für die Menschen von hier. Dass sie national so viel Aufmerksamkeit bekommen würde, hätte ich nicht gedacht“, sagt Andrzej Hoja, der Kurator der Ausstellung, WELT AM SONNTAG. Er steht zwischen den Fotos der Wehrmachtssoldaten und natürlich weiß er um die Kontroversen. Lächeln will er daher nicht.

Nur wenige Tage nach der Ausstellungseröffnung im Juli meldete sich der damalige Staatspräsident Andrzej Duda zu Wort. Soldaten des „Dritten Reichs“ als „unsere“ darzustellen, schrieb er auf X, sei eine „historische Unwahrheit“ und eine „moralische Provokation“. „Die Polen als Nation waren Opfer der deutschen Besatzung und des deutschen Terrors, nicht Täter oder Beteiligte“, so Duda weiter.

Daraufhin hagelte es Kritik an der Ausstellung aus dem Lager der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), dem Duda entstammt. Aber auch Angehörige des Regierungslagers von Premierminister Donald Tusk äußerten sich ablehnend, darunter Vizepremier und Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz.

Dabei relativiert die Ausstellung deutsche Schuld keineswegs, sie beginnt mit einer Darstellung des Terrors der Besatzer in der Region Pomorze, also Pommern, der unmittelbar nach dem Überfall einsetzte. Polen, das wird dem Besucher unzweideutig vor Augen geführt, war ein Opfer des Dritten Reichs.

Fragen von Zugehörigkeit und Identität

Kein Land hat dermaßen unter deutscher Besatzung gelitten; ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, die jüdische Bevölkerung in Gettos gepfercht; die deutschen Vernichtungslager befanden sich im besetzten Polen. Drei Millionen der sechs Millionen jüdischen Opfer der Deutschen waren polnische Staatsbürger, Millionen ethnischer Polen wurden umgebracht.

„Nasi Chlopcy“ indes konfrontiert die polnische Gesellschaft mit schwierigen Fragen von Zugehörigkeit und Identität. Denn Polen vor dem Zweiten Weltkrieg war ein Vielvölkerstaat, auch eine deutsche Minderheit lebte dort. Ab 1939 nahmen die Deutschen viele Menschen in den besetzten oder annektierten Teilen Polens in vier sogenannte Deutsche Volkslisten auf.

Sie erhielten je nach Abstammung oder auch politischer Einstellung unterschiedliche Rechte und wurden vielfach in die Wehrmacht eingezogen. Einige haben sich an Verbrechen beteiligt, andere sind desertiert. Nach dem Krieg kehrten viele nach Polen zurück und verschwiegen meist ihre Zugehörigkeit zur Wehrmacht, erfanden alternative Geschichten.

Auch das ist ein Thema der Danziger Ausstellung, wenn etwa Familienfotos gezeigt werden, auf denen Wehrmachtsuniformen nur verfremdet zu sehen sind. Die deutschen Wehrmachtssoldaten, die vormals polnische Bürger waren, wurden zu großen Teilen nach Frankreich oder Norwegen geschickt. Sie sollten nicht in Polen ihren Dienst tun, um nicht mit der Bevölkerung dort zu „fraternisieren“.

Ausgestellt wird auch Feldpost, die nicht auf Polnisch geschrieben werden durfte – die nach den ersten Absätzen dann aber doch auf Polnisch ist. Ihre Verfasser wussten, dass die Zensoren Briefe nicht gerne zu Ende lasen und wollten selbst nicht von ihrer Muttersprache ablassen. Unterschrieben sind die Briefe bisweilen von Männern, die einen polnischen Vor- und einen deutschen Nachnamen tragen.

„Im Schulunterricht in Polen lernt man darüber nichts. Polen sind ausschließlich Opfer oder Helden. Dabei ist all das kein Geheimnis, historisch ist es nicht umstritten. Aber es entspricht nicht der dominierenden nationalen Erzählung“, erzählt Kurator Hojna, der auch wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Historische Forschung der Vertretung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin ist.

Das Thema der Ausstellung provoziert Ablehnung, auf jeden Text, jede Äußerung folgen Kritik, gar Hass seitens der Politik, in Medien und sozialen Netzwerken. Das musste auch Szczepan Twardoch erfahren. Der bekannte polnische Schriftsteller, der aus einer schlesischen Familie stammt, erklärte im Zuge der Debatte um die Ausstellung, dass einer seiner Großväter in die Wehrmacht eingezogen wurde, der andere in den Volkssturm und schließlich desertierte. Daraufhin wurde Twardoch heftig und teilweise vulgär angegangen.

„Ich habe meine persönliche Geschichte wiedergegeben, die nicht der dominierenden Erzählung entspricht, die nicht dazu passt“, sagt Twardoch im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Die Reaktionen lassen sich in zwei Gruppen teilen: Da sind sehr viele positive, die Leute sind dankbar dafür. In aller Bescheidenheit, aber meine Stimme hat Gewicht, sie wird gehört – und so kommt auch eine andere Perspektive in den öffentlichen Diskurs“, erklärt der Schriftsteller.

Derart positive Rückmeldungen hat auch Kurator Hoja erhalten, wofür er dankbar ist, wie er erklärt. „Dann sind da aber auch Todesdrohungen und Beschimpfungen, die ich bekommen habe“, sagt Twardoch. „Ich wurde ‚Volksdeutscher‘ genannt, oder mir wurde geraten, doch nach Deutschland zu verschwinden. Nur warum sollte ich das tun? Ich lebe in Schlesien, wo meine Familie seit mindestens 400 Jahren lebt.“

Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.

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