Seit sich die Branche von den Einbrüchen in der Corona-Pandemie erholt hat, erleben viele europäische Länder einen nie dagewesenen Touristenandrang. Frankreich führt mit 109 Millionen Besuchern die Liste des UN-Welttourismusbarometers als beliebtestes Reiseziel an, dicht gefolgt von Spanien, das im Jahr 2024 94 Millionen Menschen besuchten – ein neuer Höchstwert. Italien folgt auf Platz fünf, Deutschland belegt Platz neun.
In der EU ist der Tourismus mit einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund zehn Prozent ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Doch die Hotspots stoßen zunehmend an ihre Belastungsgrenzen: Menschenmassen überfordern die Infrastruktur, strapazieren die Umwelt und konkurrieren mit Einheimischen um den ohnehin knappen Wohnraum. Wo einst grenzenloses Wachstum das Ziel war, ist nun ein Strategiewechsel zu beobachten. Ein Überblick.
Südeuropa
Portofino hat die rote Linie schon vor Jahren gezogen. Um Menschentrauben zu vermeiden, die die engen Gassen der Kleinstadt an der ligurischen Küste verstopfen, führte der Bürgermeister 2023 sogenannte „zone rosse“ (rote Zonen) ein. Auch in diesem Sommer gilt: Wer zu lange in den Sperrzonen verweilt, riskiert ein Bußgeld. Denn die Stadt mit nicht einmal 400 Einwohnern stellt einen Besucherrekord nach dem anderen auf – und weiß kaum wohin mit den vielen Touristen.
Weil sich nicht alle Besucher zu benehmen wissen, wird seit diesem Sommer auch Flanieren mit freiem Oberkörper, barfuß oder nur in Badekleidung sowie Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit sanktioniert. Selbst das Herumsitzen auf einigen Straßen, Mauern und Parks ist verboten. In der reichsten Gemeinde Italiens hat man einen Ruf zu verlieren.
Auch weniger exklusive Orte kämpfen mit der Überbelastung. Laut dem Institut Demoskopika kommen im Badeort Rimini über 17.000 Besucher auf einen Quadratkilometer, jeder einzelne von ihnen produziert durchschnittlich 77 Kilogramm Müll – nationaler Rekord. Die autonome Provinz Südtirol mit ihrer Hauptstadt Bozen profitiert zwar stark von Besuchern, die vor der Hitze im Süden in die kühleren Alpen fliehen. Lag die Zahl der Ankünfte 1950 noch bei rund 330.000, stieg sie bis 2024 auf rund neun Millionen an – bei rund 540.000 Einwohnern.
Doch Almwirte beklagen unflätiges Verhalten von Touristen, die rücksichtslos mit der Umgebung umgingen und ihren Müll in der Natur hinterließen. Weil sie sich von der Provinzregierung im Stich gelassen fühlen, stellten Landwirte jüngst an einem Wanderweg am Berg Sedeca aus Protest ein Drehkreuz auf. Auf dem Weg zu einem Ausgangspunkt, den täglich tausende Menschen passieren, erhoben sie eine symbolische „Fußgängermaut“.
In Spanien sind die Fronten noch verhärteter. Bürger- und Umweltinitiativen auf Mallorca flehten im Frühjahr in einem offenen Brief darum, dass Touristen der Insel fernbleiben. Jedes Jahr werden neue Rekorde aufgestellt: Laut dem Nationalen Statistikinstitut INE reisten 2024 insgesamt 18,7 Millionen auf die Balearen, 13,4 Millionen allein nach Mallorca – so viele wie nie zuvor.
Exemplarisch zeigt sich die Krise auch in Barcelona. Die für ihre Jugendstil-Architektur bekannte Stadt zählte 2024 – je nach Schätzung – zwischen acht und zwölf Millionen Touristen. Auf jeden Einwohner kamen damit zwischen vier und sieben Touristen. Anwohner beklagen sich darüber, dass alteingesessene Restaurants schließen und Geschäfte des täglichen Bedarfs Souvenirläden weichen.
Vor allem aber fehlt es an bezahlbarem Wohnraum. Die Stadt geht nun verschärft gegen Kurzzeitinserate vor: Bis 2028 sollen 10.000 Lizenzen auf Immobilien-Plattformen auslaufen. Auch die Kurtaxe wurde erhöht. Die Zentralregierung in Madrid hat zudem die Vermietungsplattform Airbnb angewiesen, zehntausende aus ihrer Sicht illegale Inserate zu entfernen. Auch in Portugal sorgt der Tourismus wegen steigender Mieten für soziale Spannungen, zudem leidet der Süden unter Wasserknappheit.
Für die Politik ist es eine Gratwanderung, macht der Anteil des Tourismus in Portugal und Spanien immerhin zwölf Prozent des BIP aus. In Griechenland und Kroatien sind es sogar rund 20 Prozent. Zugleich sind die Folgen der Überbelastung in kleineren Orten mit weniger ausgeprägter Infrastruktur und fragilen Ökosystemen ungleich härter.
Auf den griechischen Inseln Santorini, Mykonos oder Rhodos kamen laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts im Jahr 2023 im Schnitt gut 117 Gästeübernachtungen auf jeden Einwohner, auf den Ionischen Inseln waren es rund 98 Übernachtungen. Santorini verhängte im vergangenen Jahr wegen des extremen Andrangs sogar kurzzeitig eine Ausgangssperre für Einheimische.
So weit wollen viele Gemeinden nicht gehen, doch Höchstgrenzen und der Versuch, die Ströme umzulenken, sind vielerorts zu beobachten. Südtirol beschloss 2022 eine Bettenobergrenze. Wer an den berühmten Stränden der italienischen Insel Sardinien liegen will, muss in einigen Orten seinen Besuch vorab per App reservieren.
Venedig, Paradebeispiel für den um sich greifenden „Overtourism“, erhebt seit 2024 eine Eintrittsgebühr von fünf bis zehn Euro für Tagestouristen. Bei der Kreuzfahrtindustrie sieht die Politik ebenfalls Hebel: Venedig hat große Schiffe schon länger aus seinem Zentrum verbannt. Barcelona will den Betrieb von zwei seiner sieben Terminals einstellen. In Frankreich haben Nizza und Cannes die Anzahl ankommender Kreuzfahrtpassagiere stark limitiert.
Nordeuropa
Doch nicht nur die klassischen Urlaubsziele im Süden sind von den Touristenmassen überfordert. Auch in Skandinavien ist der wachsende Andrang vielerorts zum Problem geworden. Vor allem die außergewöhnliche Natur ist es, die immer mehr Urlauber in den Norden lockt – aber auch die kühleren Temperaturen im Vergleich zu Südeuropa, wo es im Sommer nicht selten auf die 40 Grad zugeht.
„Coolcation“ lautet das Stichwort, mit dem etwa Schweden und Norwegen für einen Besuch werben. Mit Erfolg: Die Zahl der Besucher steigt seit in allen skandinavischen Ländern seit Jahren an. Einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes der EU-Kommission zufolge dürfte sich dieser Trend in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wegen des Klimawandels noch weiter verstärken.
Für die lokale Wirtschaft sind das gute Nachrichten. Doch die Anwohner sind mancherorts weniger begeistert von der neuen Popularität ihrer Heimat. Denn die Touristenströme konzentrieren sich – befördert durch millionenfach auf Social Media geteilte Reisetipps – auf einige wenige Regionen und Ortschaften, die für solche Massen an Besuchern nicht ausgelegt sind.
Besonders betroffen sind etwa die Lofoten in Norwegen. Auf der Inselkette mit ihren malerischen Fjorden ganz im Norden des Landes wohnen gerade einmal 25.000 Menschen. Auf sie kommen inzwischen laut dem norwegischen Statistikamt mehr als eine Million Hotelübernachtungen pro Jahr – Camper und Aufenthalte in privaten Unterkünften wie Airbnbs nicht eingerechnet.
„Touristen sind überall, egal wo man ist“, sagte Anwohner Ronny Bye der norwegischen Tageszeitung „Verdens Gang“. Einheimische berichten von Urlaubern, die ihren Müll nicht entsorgen, in privaten Gärten für Fotos posieren, mit ihren Wohnmobilen die Straße blockieren oder ihr Geschäft in der Natur verrichten. „Im Sommer, wenn’s warm wird, ist der Geruch hier kein Vergnügen“, berichtete eine Bewohnerin im vergangenen Jahr dem Sender Sveriges Radio.
Um Abhilfe zu schaffen, sind auch ungewöhnliche Maßnahmen willkommen: Einige Ort verteilen in den Besucherzentren inzwischen Kotbeutel, um die Verschmutzung der Naturschutzgebiete zu verhindern. Aber auch im Parlament in Oslo ist das Problem angekommen: So wurde bereits der Zugang von Kreuzfahrtschiffen zu den Fjorden deutlich eingeschränkt; aber 2032 sollen nur noch emissionsfreie Schiffe einlaufen dürfen.
Im Juni verabschiedete das Parlament zudem ein Gesetz, nach dem besonders belastete Kommunen ab dem kommenden Jahr eine Tourismusabgabe in Höhe von drei Prozent verlangen können. Das Geld soll für touristische Zwecke wie den Ausbau von Wanderwegen, Parkplätzen oder Sanitäranlagen genutzt werden. Wohnwagen sind davon allerdings ausgenommen – obwohl die wegen des in Skandinavien erlaubten Wildcampens oft als besonders große Belastung wahrgenommen werden.
Auch in einigen Ecken von Schweden ist Overtourism kein Fremdwort mehr. Die Insel Gotland mit gerade einmal 60.000 Einwohnern verzeichnet etwa eine Million Gäste pro Jahr. „Der Juli ist absolut widerlich“, sagte eine Anwohnerin der schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“. Neben Lärm und Verschmutzung hinterlassen die Touristen auch auf dem Wohnungsmarkt ihre Spuren: Viele Unterkünfte werden für Urlauber zurückgehalten, die Preise sind stark gestiegen.
Die Vorsitzende des Regionalrats Gotland, Meit Fohlin, plädiert darum für eine Kurtaxe nach norwegischem Vorbild. „Wir wollen nicht in der gleichen Situation enden wie Barcelona“, sagte sie dem Sender TV4. Mehrere Gemeinden haben sich der Forderung angeschlossen, doch die Regierung in Stockholm erteilt der Idee bislang eine Absage. So lange müssen also andere Maßnahmen her: zum Beispiel ein digitaler Toilettenkurs für Wanderer, den der schwedische Tourismusverband seit Neuestem anbietet.
Auch in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen, die in den vergangenen Jahren einen regelrechten Tourismusboom erlebt hat, sollen Besucher dazu bewegt werden, rücksichtsvoller und nachhaltiger zu reisen. Wer etwa Müll einsammelt oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, wird im Zuge der Initiative CopenPay mit kostenlosen Aktivitäten und Eintrittskarten belohnt.
Vor allem aber richtet sich das Augenmerk in Skandinavien darauf, die Touristen besser über das Land – und über das Jahr – zu verteilen, indem man alternative Regionen und Reisezeiträume bewirbt. Der Norden Finnlands etwa zieht mit seinen winterlichen Landschaften vor allem zu Weihnachten die Besuchermassen an. Das Tourismusportal Visit Finnland preist darum nun ganz gezielt Lappland – das selbst erklärte Zuhause des Weihnachtsmanns – für einen Sommerurlaub an.
Lara Jäkel ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie unter anderem über Nordeuropa und die USA.
Diana Pieper ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf Europa.
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