Plötzlich fliegen Steine in Richtung der Karawane. Sie verfehlen den Kopf des Präsidenten und seiner Schwester nur knapp. Der libertäre Kandidat José Luis Espert wird auf einem Motorrad evakuiert, Javier und Karine Milei werden von ihren Sicherheitskräften aus der Gefahrenzone gebracht. Der Vorfall ereignet sich am Mittwoch in Lomas de Zamora in der Provinz Buenos Aires, die als eine Hochburg der linkspopulistischen Ex-Präsidentin Cristina Kirchner gilt.
Dass Milei hier überhaupt aufgetreten war, zeugt von Mut, war aber gefährlich. Denn viele Kirchner-Anhänger betrachten die linksregierte Provinz Buenos Aires als ihr Eigentum. Bereits am Tag zuvor hatten mutmaßlich gewaltbereite linksextreme Aktivisten Jagd auf Milei-Anhänger gemacht. Immer wieder kommt es, angestachelt von verbalen Hassattacken aus dem linksextremen Flügel des sogenannten „Kirchnerismus“ zu bisweilen Übergriffen gegen libertäre Vertreter.
Mileis Sicherheitsministerin Patricia Bullrich wird auf Plakaten zum Selbstmord aufgefordert, Graffitis an Häuserwänden fordern unverhohlen zur Gewalt gegen Libertäre auf. Das Haus des libertären Provinz-Kandidaten Espert beschmierten linke Aktivisten jüngst mit Fäkalien. Den wirtschaftsliberale Kurs Mileis zur Sanierung des Landes und seine Loyalität zu Israel empfindet die argentinische Linke als eine Kriegserklärung.
Seit ein paar Tagen haben Korruptionsvorwürfe gegen das Umfeld von Milei die Situation angeheizt. Im Zentrum steht der Direktor der nationalen Behindertenbehörde, Diego Spagnuolo. Auf einem Audiomitschnitt soll zu hören sein, wie er über Schmiergeldzahlungen im Gesundheitswesen spricht, die Medizinlabore und Drogerien leisten müssten, um sich staatliche Verträge zu sichern. Die Aussagen bringen den engsten Beraterkreis des Präsidenten in Erklärungsnot. Genannt wird unter anderem auch Karina Milei, die Schwester und wichtigste Vertraute. Sie gilt als Person mit dem größten Einfluss auf Milei.
Im Raum steht der Vorwurf, dass rund drei Prozent der Auftragssumme an das Korruptionsnetzwerk abzuführen sei. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, verlöre Milei einen seiner wichtigsten Markenkerne: den Kampf gegen die Korruption.
„Wie für jeden anderen gilt auch für Javier Milei und sein Umfeld die Unschuldsvermutung“, sagt Hans-Dieter Holtzmann von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Buenos Aires im Gespräch mit WELT. „Es dürfte aber im eigenen Interesse von Milei sein, dass alle Vorwürfe der letzten Wochen lückenlos untersucht und ausgeräumt werden. Dies sowohl im Hinblick auf sein Image als „Saubermann“ bei den so wichtigen Kongresswahlen im Oktober, als auch angesichts negativer Marktreaktionen für sein Image bei ausländischen Investoren.“
Milei verspricht Aufklärung
Milei äußerte sich kurz vor der physischen Attacke in Lomas de Zamora erstmals selbst zu den Spagnuolo-Vorwürfen: „Alles, was er sagt, ist eine Lüge, wir werden ihn vor Gericht bringen.“ Gleichzeitig zeigt sich Milei demonstrativ an der Seite seiner Schwester und suchte den direkten Kontakt zur Bevölkerung.
Karina Milei gilt als der Kopf des erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampfs 2023. Wer mit Milei sprechen wollte, musste erst sie überzeugen. Sie koordinierte die Interviewanfragen, die Wahlkampfstrategie und die politischen Kernaussagen. Karina Milei gelang es praktisch von ihrem Mobiltelefon aus, die bis dato zementierten politischen Kräfteverhältnisse in Argentinien aus den Angeln zu heben. Insgeheim bewunderte auch das Kirchner-Lager diese höchst effektive Vorgehensweise.
Lange umgab sie die Aura der großen Unbekannten, erst in den letzten Monaten wagte sie sich öfter in die Öffentlichkeit. Zugleich identifizierte die heutige linke Opposition Karina Milei aber auch als zentrales Angriffsziel, weil sie um die Bedeutung und den Einfluss der Schwester auf den Präsidenten weiß. Dass Milei seine Schwester fallen lässt, scheint zurzeit undenkbar. Wirklich besorgniserregend ist für Milei die Reaktion der Märkte: Die Aktien verloren teilweise bis zu zehn Prozent an Wert, der Wert des Dollars stieg wieder. Ein Indiz dafür, dass die Märkte die Regierung Milei in arger Bedrängnis sehen.
Korruptionsvorwürfe gehören in der argentinischen Politik zum Alltag. Cristina Kirchner, die das Land als Präsidentin von 2007 bis 2015 und als Vizepräsidentin von 2019 bis 2023 regierte, wurde gerade erst wegen Korruption verurteilt und befindet sich im Hausarrest. Ihr verstorbener Mann Nestor Kirchner regierte Argentinien von 2003 bis 2007. Sohn Maximo, selbst im Parlament, gilt als einer der wichtigsten, aber auch umstrittensten Strippenzieher. Die Familie Kirchner stieg während ihrer politischen Karriere zu Multimillionären auf, bestreitet aber die Vorwürfe der Bereicherung vehement.
Am 7. September wird in der riesigen und bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires gewählt. Der linksgerichtete Gouverneur Axel Kicillof musste sich zuletzt Sorgen um seine Wiederwahl machen, denn nach dem starken Wahlergebnis in der Hauptstadt Buenos Aires, sagten Umfragen zuletzt auch deutliche Stimmengewinne für Mileis Libertären voraus. Nun könnte Kicillof von den Vorwürfen gegen das Milei-Lager und einer Denkzettel-Wahl profitieren und der von Milei vor allem symbolisch wichtige Machtwechsel in der Provinz scheitern. Wesentlich bedeutungsvoller sind allerdings die Halbzeitwahlen Ende Oktober, dann wird über die Mehrheitsverhältnisse im Senat und Kongress neu entschieden. Milei fehlt bislang eine eigene Mehrheit im Parlament.
Die Regierung scheint auch zum Opfer des eigenen Erfolges zu werden. Die konservative Tageszeitung „La Nacion“ berichtet über einen messbaren Vertrauensverlust in Umfragen nach den jüngsten Vorwürfen und kommentierte am Abend: „Die Audioaufnahmen von Spagnuolo lösten eine Krise in der Regierung aus, die sich nach den Wahlen mit einem neuen wirtschaftspolitischen Konzept und insbesondere mit einer neuen Mannschaft, die für die Politik zuständig ist, neu aufstellen muss.“ Zudem hätten sich die Präferenzen innerhalb des Wahlvolkes verschoben. Nachdem die Milei-Regierung vor allem durch harte Sparmaßnahmen die außer Kontrolle geratene Inflation in den Griff bekam und auch die Armutsrate spürbar sank, sind diese Themen für die Argentinier laut aktueller Umfrage der Zeitung „La-Nacion“ nicht mehr so vorrangig. Das wichtigste Thema nun: die Korruptionsbekämpfung.
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
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