In einem Monat jährt sich der 7. Oktober 2023 zum zweiten Mal. Für viele Familien in Israel ist der 7. Oktober kein Jahrestag, sondern ein Dauerzustand. Ein Tag, der nie aufgehört hat, zu schmerzen. Die Welt hat zugesehen, die Bilder gingen um die Welt.

Aber mal ehrlich: Wer schaut heute noch hin? Wer registriert, dass nach diesem genozidalen Massaker der Hamas der Antisemitismus weltweit explodiert ist und weiter explodiert – in Universitäten, auf den Straßen, auf Bühnen?

Im Mai 2025 erreichte das Grauen eine neue Dimension: Zwei israelische Diplomaten, kurz vor der Verlobung, erschossen vor dem Capital Jewish Museum in Washington. Zwei Menschen, auf der Schwelle zu einem neuen Leben. Ausgelöscht, weil ihre Herkunft sie zu Zielen machte.

Auch aktuell häufen sich die Vorfälle, so alltäglich, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Im belgischen Knokke-Heist notiert ein Arzt irakischer Herkunft, der ein neunjähriges Mädchen behandelt, in seinem Bericht unter „gesundheitlichen Problemen“ „jüdisch (Israel)“. Direkt unter den Allergien. Als wäre das eine Krankheit.

In Amsterdam beendet ein Bootsführer die Grachtenfahrt, als er erfährt, dass seine Gäste aus Israel kommen. Plötzlich spricht er über den Holocaust und wirft einer Frau und ihrem Sohn vor, „wie wir es wagen könnten, so etwas einem anderen Land anzutun“, erzählt die Mutter einer israelischen Zeitung. „Ich hatte Angst, er würde uns ins Wasser stoßen.“

Warschau: Der Sänger David D’Or, eingeladen zu einem jüdischen Kulturfestival, wird attackiert und mit roter Farbe beworfen. Zwei Aktivistinnen mit Palästina-Fahnen begründen das mit dem – in Israel verpflichtenden – früheren Dienst des Sängers für die Armee.

Los Angeles: Ariel Marciano, 24, will zur Bar Mizwa eines Cousins und wird bei einer Touristenattraktion von Palästina-Demonstranten umringt, geschlagen, mit einem Messer bedroht. Weil er Hebräisch spricht und eine Davidstern-Kette trägt. Die Kette wird ihm entrissen.

Porté-Puymorens in Südfrankreich: Der Leiter eines Freizeitparks verwehrt israelischen Kindern und Jugendlichen den Zutritt zu einer Zipline. Geplant war ein Tag voller Spaß. Erleben mussten sie Diskriminierung und Willkür.

Und dann London, in dieser Woche. Der Sänger Chris Martin bittet zwei junge Frauen auf die Bühne eines Coldplay-Konzerts. Sie sagen, sie kommen aus Israel. Martin reagiert überrascht und verunsichert. Ein Teil des Publikums buht. „Ich bin sehr dankbar, dass ihr als Menschen hier seid“, sagt der Musiker. „Wir behandeln euch als gleichberechtigte Menschen auf der Erde, unabhängig davon, woher ihr kommt.“ Wow. Wie großzügig. Dann sagt er: „Und auch wenn das vielleicht umstritten ist, will ich auch die Menschen aus Palästina im Publikum willkommen heißen.“

Moment mal. Müssen Israelis jetzt schon dankbar dafür sein, als „gleichberechtigte Menschen auf der Erde“ behandelt zu werden? Wie kommt Chris Martin überhaupt darauf, die Menschlichkeit seiner Fans betonen zu müssen, nur weil sie aus Israel kommen?

Und warum meint er, sofort klarstellen zu müssen, dass er auch palästinensische Fans begrüßt, weil die Frauen auf der Bühne zufällig Israelinnen sind? Warum politisiert er diesen Moment, wie er das wohl bei keiner anderen Nation getan hätte?

Eine subtile, verstörende Botschaft

Wenn seine Fans mit „Russland“ oder „Iran“ geantwortet hätten, hätte Martin wohl kaum an Putin oder Khamenei gedacht. Er hätte nicht gesagt, er würde sie als „gleichwertige Menschen auf der Erde behandeln“. Und er hätte kaum extra die Ukrainer und Israelis in seinem Publikum begrüßt, nur weil gerade zufällig Russinnen und Iranerinnen auf der Bühne stehen. Die kommen einfach.

Israelis müssen zertifiziert werden. Als menschlich. Gleichwertig. Als würde man damit nicht das genaue Gegenteil erreichen.

Weil die Frauen Israelinnen sind, behandelt der Coldplay-Sänger sie anders. Er verknüpft sie mit einem Konflikt, auf den sie keinen Einfluss haben, den sie sich nicht gewünscht haben. Wahrscheinlich war seine Reaktion nicht böse gemeint. Doch offensichtlich kann der Coldplay-Sänger israelisches Leben nicht anerkennen, ohne dies mit dem aktuellen Krieg in Gaza in Verbindung zu setzen. Er lässt seine Fans, die einfach nur ein Konzert genießen wollen, sich schlecht fühlen, nur weil sie aus Israel kommen.

Hier geht es nicht um Drohungen, Schläge oder Messerstiche. Hier geht es um eine subtile Botschaft, um unangebrachte Bemerkungen. Verletzen kann das aber ebenso. Auch so ein Vorfall trägt dazu bei, einen Dauerzustand zu schaffen. Einen Dauerzustand, in dem man damit rechnen muss, in seiner Identität oder gar seiner körperlichen Unversehrtheit angegriffen zu werden, egal, wo man ist.

Und deshalb passt auch das Konzert in London in diese Reihe. Chris Martin reduziert zwei junge Frauen allein aufgrund ihrer Herkunft zu Spielfiguren in einem politischen Konflikt. Was für ein beschämender Moment.

Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Am 15. September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.

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