Sylvi Listhaug scheut sich nicht vor Provokationen. Windräder bezeichnet die Vorsitzende der norwegischen Fortschrittspartei (FrP) als „weiße Monster“, Klimaaktivistin Greta Thunberg nach einer Protestaktion in Norwegen als „Bandenkriminelle“, die ausgewiesen werden müsse. In Bezug auf Norwegens Asylpolitik warnt sie vor „schwedischen Verhältnissen“, weil dort Migration zur „No-Go-Zonen“ geführt habe. Bei den Parlamentswahlen am Montag geht Listhaug als Spitzenkandidatin ihrer Partei ins Rennen – und hat realistische Chancen, die erste Regierungschefin einer rechtspopulistischen Partei in Nordeuropa zu werden.

Die Arbeiterpartei des amtierenden Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre führt die Umfragen mit etwa 27 Prozent zwar an. Doch Listhaugs Fortschrittspartei folgt mit 22 Prozent auf dem zweiten Platz – deutlich vor der traditionell größten konservativen Partei Høyre, die von der ehemaligen Ministerpräsidentin Erna Solberg angeführt wird und nur noch auf 15 Prozent kommt.

Bildet sich nach der Wahl eine Koalition im linken Lager, ist die Sache klar: Støre bleibt Regierungschef. Findet sich eine rechte Mehrheit, müssen Listhaug und Solberg die Sache unter sich ausmachen. Die FrP-Chefin hat bisher nicht explizit Anspruch auf das Amt erhoben, im Wahlkampf aber immer wieder betont, dass die größte Partei einer künftigen Koalition die Regierung anführen müsse. Bestätigen sich die Umfragen, hätte Listhaug zumindest rechnerisch die besseren Argumente, immerhin steuert sie auf das womöglich beste Ergebnis der Parteigeschichte zu.

Gelungen ist das in einem stark von innenpolitischen Themen dominierten Wahlkampf durch simple, knallige Botschaften: Die Migration soll beschränkt und die Sozialleistungen für Einwanderer auf den niedrigsten Stand in Europa gesenkt werden, verspricht Listhaug. Außerdem will sie die Steuern drastisch senken, die „Verschwendung“ staatlicher Gelder für Klimaschutz und Entwicklungshilfe beenden, jugendliche Kriminelle härter bestrafen und „jeden Tropfen Öl“ in Norwegen fördern.

Dass ihre Lösungsansätze meist stark vereinfacht oder kaum bezahlbar sind, scheint die Wähler nicht zu stören. Auch in den Sozialen Medien ist die Partei erfolgreich unterwegs, gibt sich dort nahbar und bekommt insbesondere von jungen Männern viel Zuspruch. Mit dieser Kombination aus harter Asylpolitik, liberaler Wirtschaftspolitik und dem Narrativ als „Vertreter des Volkes“ hat die FrP vor allem von der zuletzt oft profillos wirkenden Høyre viele Wähler abwerben können.

Vor rund 50 Jahren als libertäre Protestpartei gegründet, ist die FrP inzwischen fest in der norwegischen Politik etabliert – auch, weil sie im Vergleich zu anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa eher gemäßigte Positionen vertritt und nicht als extremistisch oder verfassungsfeindlich eingeordnet wird. Außenpolitisch bewegt sich die FrP weitestgehend im Mainstream, unterstützt etwa die Militärhilfen für die Ukraine und die höheren Verteidigungsausgaben in der Nato.

Nach den Parlamentswahlen 2013 und 2017 war die Partei an der Regierung von Premierministerin Solberg beteiligt, verließ die Koalition 2020 aber im Streit um eine IS-Rückkehrerin mit norwegischer Staatsbürgerschaft. Listhaug hatte in dieser Zeit verschiedene Ministerposten inne – und sorgte weiter für Schlagzeilen: Als Gesundheitsministerin empfahl sie, man solle „rauchen, trinken und Fleisch essen“ so viel man wolle; als Integrationsministerin beklagte sie eine „Tyrannei der Gutmenschen“.

2018 musste Listhaug als Ministerin zurücktreten, weil sie der damals oppositionellen Arbeiterpartei in einem Facebook-Post vorgeworfen hatte, mehr für die Rechte von Terroristen als für die Sicherheit des Landes zu tun – ausgerechnet der Partei also, die 2011 Opfer des Terroranschlags auf der Insel Utøya wurde. Attentäter Anders Breivik war selbst mal Mitglied der FrP, aber im Jahr 2006 wieder ausgetreten. Die Opposition drohte Listhaug mit einem Misstrauensvotum, dem sie durch den Rücktritt zuvorkam.

Sie bezeichnete den Vorgang später als „reine Hexenjagd“ mit dem Ziel, „die Meinungsfreiheit zu knebeln.“ Politisch hat ihr die Affäre kaum geschadet, schon im nächsten Jahr wurde sie erneut zur Ministerin ernannt. In der Bevölkerung aber zweifeln spätestens seitdem viele daran, ob Listhaug ihre provokante Rhetorik als Ministerpräsidentin ablegen könnte. Viele bürgerliche Wähler trauen ihr nicht zu, das Land nach innen zu einen und nach außen würdig zu repräsentieren.

Rückkehr von Jens Stoltenberg

Profitieren könnten ausgerechnet die Sozialdemokraten. Ministerpräsident Støre hatte die Partei nach dem Bruch der Regierungskoalition im Januar – Hintergrund war die Umsetzung einer EU-Energierichtlinie – aus einem Umfragetief manövriert. Als einziger verbliebener Teil der Minderheitsregierung konnte er das sozialpolitische Profil der Arbeiterpartei schärfen und sich auf der internationalen Bühne einen Namen als souveräner Repräsentant des Landes machen.

Vor allem war es aber die Rückkehr von Jens Stoltenberg als Finanzminister in die norwegische Politik, die der Arbeiterpartei neuen Aufschwung verlieh. Der ehemalige Ministerpräsident und langjährige Nato-Generalsekretär gilt im Inland wie im Ausland als angesehen, selbst zu US-Präsident Donald Trump wird ihm ein guter Draht nachgesagt. In turbulenten Zeiten, so die Hoffnung, könnten viele Wähler eine erfahrene, stabile Regierung einer womöglich von Listhaug geführten konservativen Koalition vorziehen.

Darauf setzt Støre ganz bewusst und inszeniert die FrP als größten Gegenspieler, von dem sich seine Partei deutlicher abgrenzen kann als von der gemäßigten Høyre. Die Kalkulation scheint aufzugehen: In einer aktuellen Umfrage sprechen sich 45 Prozent für Støre als Ministerpräsidenten aus, dahinter folgen Solberg und Listhaug mit 24 und 19 Prozent. Stünden nur Støre und Listhaug zur Auswahl, liegt der amtierende Ministerpräsident sogar bei den konservativen Wählern an erster Stelle.

Auch Høyre-Chefin Solberg hat die Gefahr erkannt, dass die Aussicht auf Listhaug als Premierministerin einer konservativen Koalition womöglich Wähler abschrecken und ihr Lager den Wahlsieg kosten könnte – und bemüht sich kurz vor der Wahl um Klarheit. In einem Interview sagte sie kürzlich, dass in einer konservativen Regierung nur sie als Ministerpräsidentin infrage komme, weil außer der FrP alle anderen potenziellen Koalitionspartner sie in der Rolle bevorzugen würden.

Welche Konstellationen überhaupt möglich sein werden, ist offen; vieles hängt davon ab, welche der kleineren Parteien es über die Vier-Prozent-Hürde schaffen. Eins aber ist sicher: Sollte Solberg tatsächlich Premierministerin werden, obwohl die FrP das bessere Ergebnis eingefahren hat, wird sich Listhaug das Amt teuer abkaufen lassen – und so letztendlich ihre Positionen vielleicht sogar stärker durchsetzen können, als wenn sie selbst Regierungschefin werden würde.

Lara Jäkel ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie unter anderem über Nordeuropa und die USA.

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