An deutlichen Worten ist kein Mangel an diesem Mittwochvormittag im Landtag von Hannover.
„Zunächst möchte auch ich betonen, wie sehr mich der Tod von Liana K. bewegt“, sagt die Innenministerin.
„Unser tiefes Mitgefühl gilt den Eltern, den Angehörigen und den Freunden der Verstorbenen“, kondoliert die CDU.
„Wir werden alles für die Aufklärung tun, damit die Tat nicht folgenlos bleibt“, versichert die AfD.
„Der Tod von Liana, einer 16-jährigen jungen Frau, hat uns alle tief erschüttert“, betont die SPD.
„In der Trauer und der Anteilnahme sind wir geeint“, sagt ein Abgeordneter der Grünen.
Danach wird dann debattiert, wie so oft in solchen Fällen. Sozialdemokraten und Grüne, die hier in Hannover die Regierung stellen, plädieren gemeinsam mit der Innenministerin, Daniela Behrens (SPD), für eine „nüchterne und sachliche“ Aufarbeitung des Todes der 16-jährigen Auszubildenden. Sie warnen vor Populismus und unbegründeter Kritik an den Behörden. Sie versprechen eine „akribische Aufarbeitung“ des Falles und warnen davor, zu glauben, dass ohne ungeregelte Zuwanderung alles Friede, Freude, Eierkuchen wäre in diesem Land.
Auch die Faktoren Männergewalt und der nicht ausreichend geregelte Umgang der Gesellschaft mit psychisch gestörten Menschen, spiele eine Rolle bei solchen Fällen. Niedersachsens Parlament arbeite derzeit zum Beispiel an einem neuen „Psych KG“, einem neuen niedersächsischen „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“.
Liana K., so sieht es die Göttinger Staatsanwaltschaft, war am 11. August von einem ausreisepflichtigen, in den drei Jahren seines Aufenthalts immer wieder negativ auffällig gewordenen 31-jährigen Asylbewerber aus dem Irak im südniedersächsischen Städtchen Friedland gegen einen durchfahrenden Güterzug gestoßen worden. Sie erlag ihren dabei erlittenen Verletzungen. In der Folge dieser Tat zeigte sich exemplarisch, dass Behörden, Justiz und Politik auch zehn Jahre nach der Flüchtlingskrise noch immer überfordert sind, wenn es um einen adäquaten Umgang mit psychisch offenkundig labilen Migranten geht.
Die AfD nutzt, wie immer in solchen Fällen, die Gelegenheit, an dieser offenen Flanke des Rechtsstaats zu punkten. Im Landtag von Hannover betont sie, dass der mutmaßliche Täter, Muhammad A., „ein abgelehnter, verurteilter Asylbewerber“ sei, der zum Tatzeitpunkt „gar nicht mehr hätte hier sein dürfen“. Damit zeige „dieser schreckliche Fall in Friedland“ einmal mehr, wie „dysfunktional“, „versagend“, „defizitär“ das System sei. „Wie kann es sein, dass ein Verwaltungsgericht über zwei Jahre braucht, um über eine Dublin-Überstellung zu entscheiden?“ Zudem sei es „unverständlich, dass die Landesaufnahmebehörde im 14. Jahr ihres Bestehens scheinbar nicht in der Lage ist, einen korrekten Antrag auf Abschiebehaft beim Amtsgericht zu stellen“.
Muhammad A. war im August 2022 nach Deutschland eingereist. Zuvor hatte er bereits in Litauen, einem EU-Land also, einen Antrag auf Asyl gestellt. Gegen den folgerichtig ablehnenden Asylbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hatte A. Widerspruch eingelegt, der im März 2025 vom Verwaltungsgericht Göttingen endgültig abgelehnt wurde. Seitdem war A. ausreisepflichtig.
Nach Absitzen einer Ersatz-Haftstrafe wegen eines Exhibitionismus-Delikts stellte Niedersachsens Landesaufnahmebehörde im vergangenen Juli beim Amtsgericht Hannover einen Antrag auf Abschiebehaft. Der wurde abgelehnt. Das Gericht, so schilderte es eine Behördenmitarbeiterin in der vergangenen Woche vor dem Innenausschuss des Landtags, habe die Ablehnung der Inhaftnahme unter anderem mit einer fehlenden Fristsetzung in dem Antrag begründet. Auf einen Einspruch verzichtete die Landesaufnahmebehörde.
Spahn sagt seine Unterstützung bei Fußfessel-Plan zu
„Mit dem Wissen von heute“, so gibt Innenministerin Behrens vor dem Landtag zu, wäre diese Entscheidung sicherlich anders ausgefallen. Aber dieses Wissen hätten die beteiligten Behördenmitarbeiter damals nun einmal nicht gehabt. Sie sei sich im Klaren darüber, sagt die Ministerin, dass sich viele Menschen fragten, ob man den Beschuldigten nicht früher als gefährlich hätte erkennen müssen.
Die „ehrliche Antwort“ laute, dass es vor der Tat keine Erkenntnisse gegeben habe, die auf eine konkrete Gefährdung hätte schließen lassen. „Weder bei der Polizei noch bei der Landesaufnahmebehörde gab es Hinweise auf eine derart ausgeprägte Gewaltbereitschaft oder eine derart starke psychische Auffälligkeit, die gerechtfertigt hätte, den heute dringend Tatverdächtigen präventiv aus dem Verkehr zu ziehen.“
Noch am Abend vor der Tat habe ein Arzt Muhammad A. attestiert, dass von ihm weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung ausgehe. Insgesamt, findet Behrens, sei dieser Fall „in seiner ganzen Tragik zu komplex für schnelle Urteile“. Niedersachsen werde sich mit dem Bund darüber austauschen, welche Maßnahmen nötig seien, um die Ingewahrsamnahme von Menschen zu erleichtern, die sich einer Abschiebung zu entziehen versuchen.
Niedersachsens CDU, immerhin, ist schon einen kleinen Schritt weiter. In einem Schreiben an den Chef der Unionsfraktion im Bundestag, Jens Spahn (CDU), hat der Landesvorsitzende Sebastian Lechner die Abgeordneten seiner Partei in Berlin Anfang der Woche darum gebeten, darauf hinzuwirken, ausreisepflichtige Asylbewerber, die sich entweder strafbar gemacht oder bereits einer Abschiebung entzogen haben, künftig mithilfe elektronischer Fußfesseln überwachen lassen zu können.
„Um Lücken in der Rückführungspraxis zu schließen und zugleich einen milderen, verhältnismäßigeren Eingriff als die Haft zu ermöglichen, halte ich es für erforderlich, im Aufenthaltsgesetz eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für den Einsatz der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) zu schaffen“, so Lechner unter Bezugnahme auf die Gewalttat von Friedland.
Spahn selbst sagt seinem Parteifreund Unterstützung zu. „Wir dürfen nach dem Fall in Friedland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Abschiebungshaftanträge werden zu häufig mit dem Verweis auf Schwierigkeiten in der Praxis abgelehnt“, so der Unions-Fraktionsvorsitzende auf Anfrage von WELT. „Elektronische Fußfesseln können dieses Problem lösen und das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken.“
Ulrich Exner ist politischer WELT-Korrespondent und berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.
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