Die aktuelle Entwicklung in Frankreich hat das Potenzial für eine neue Eurokrise. Der EZB-Rat sieht das mit Sorge, verbreitet nach außen aber Gelassenheit.
François Villeroy de Galhau ist ein engagierter und redegewandter Notenbanker, der gerne seine Meinung äußert. Als Gouverneur der französischen Notenbank ist er Mitglied des EZB-Rates und gilt als wichtiger Brückenbauer zwischen den Anhängern einer lockereren und denen einer restriktiven Geldpolitik.
Seit ein paar Wochen ist es ungewöhnlich ruhig um den 66-Jährigen geworden. Aus dem Hotel de Tôulouse, dem barocken Amtssitz in Paris, dringt kaum ein Wort. Kein Wunder: De Galhau und sein gesamter Stab schauen mit Schrecken und Sorge auf die Turbulenzen im knapp drei Kilometer entfernten Élysée-Palast.
Frankreich bricht alle Regeln
Dort hat Präsident Emmanuel Macron nun dem fünften Premier innerhalb von nur knapp zwei Jahren die Entlassungsurkunde überreicht. Erneut scheiterte eine Minderheitsregierung an der Reform-Unwilligkeit des Landes.
Doch diese lassen sich wohl kaum noch vermeiden: Frankreich ist mit 116 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) verschuldet und reiht sich damit gleich auf den dritten Platz in der Eurozone ein, nach Griechenland und Italien. Eigentlich sind in der Eurozone nur 60 Prozent erlaubt.
Auch das Defizit, also das Ausmaß der Mindereinnahmen im künftigen Haushalt, verstößt gegen die Regeln: Es beträgt 5,4 Prozent vom BIP. Nach den vereinbarten Kriterien dürften es maximal drei Prozent sein. Brüssel hat längst einen blauen Brief nach Paris geschickt.
Seit Monaten ächzt das Land unter stark gestiegenen Kosten, um sich frisches Geld zu besorgen. Denn Investoren verlangen mittlerweile einen hohen Risikoaufschlag von rund 3,5 Prozent für neue zehnjährige Staatsanleihen. Für 30-jährige Anleihen sind es sogar über 4,0 Prozent. Das ist ungewöhnlich viel. Die Ratingagenturen schauen mit Argusaugen auf die Grande Nation und stufen reihenweise die Bonität des Landes herunter.
Bahnt sich eine neue Euro-Krise an?
All das erinnert fatal an die Zutaten für eine neue Euro-Krise. Die hatte Griechenland vor über zehn Jahren beinahe aus dem Euroraum katapultiert und wäre der Europäischen Währungsunion fast zum Verhängnis geworden.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde, selbst Französin und bei diesem Thema auch eher zurückhaltend, skizzierte dennoch kürzlich in einem viel beachteten Interview die brenzlige Lage. Allerdings verallgemeinerte sie die Lage in Frankreich: "Jedes Risiko eines Regierungssturzes in der Eurozone ist Grund zur Besorgnis", sagte die EZB-Chefin im dem privaten französischen Sender "Radio Classique". Sie beobachte die Geschehnisse an den Finanzmärkten sehr genau.
Ein Eingreifen des Internationalen Währungsfonds (IWF), wie von einigen Beobachtern ins Spiel gebracht, hält die ehemalige IWF-Chefin allerdings für nicht gegeben. Wohl aber mahnende Worte: "Disziplin bei den öffentlichen Finanzen ist notwendig, um ein Signal zu senden, dass man [...] an den Finanzmärkten glaubwürdig ist, den Staat, die öffentliche Verwaltung und das Land zu finanzieren", so Lagarde.
Krisenfester als vor zehn Jahren
Insgesamt hat der EZB-Rat kein Interesse, in dem Thema stark herumzurühren - schließlich gibt es schon genug Probleme. Mit dem Neutralitätsgebot, Angelegenheiten in den Mitgliedsstaaten nicht zu kommentieren, kann man sich auch leicht aus der Affäre ziehen. Tatsächlich steht die Eurozone heute aber auch wesentlich robuster da als zu Zeiten der Griechenland-Krise.
Die Europäische Zentralbank hat unter anderem ein spezielles Krisen-Werkzeug kreiert, um hoch verschuldete Staaten besser zu stützen. Mit dem "Transmission Protection Instrument" (TPI) garantiert sie, zu starke Zinsdifferenzen zwischen Mitgliedsstaaten durch Anleihekäufe einzudämmen. Bislang wurde das Instrument aber noch nicht eingesetzt. Ginge es nach dem EZB-Rat, bliebe es auch lieber in der Schublade.
Zum Glück ist der Druck der Finanzmärkte zurzeit nur mäßig. Auch der letzte Investor dürfte mittlerweile erkannt haben, dass die Zentralbank es bitterernst meint, wenn es um die Verteidigung der Währungsunion geht. Mario Draghis "Whatever-it-takes"-Rede klingelt genauso in den Ohren, wie Lagardes massives Vorgehen während der Pandemie.
Spekulanten würden sich massiv die Finger verbrennen, wenn sie wegen der hohen Verschuldung von Mitgliedsstaaten erneut wie 2012 auf einen Kollaps der Eurozone setzen würden. Von daher ist die Gefahr weitgehend gebannt.
Zentralbank trotzdem vor schwieriger Entscheidung
Problematisch aber ist die Situation Frankreichs für die weitere Geldpolitik der EZB. Mit Blick auf die Inflationsrate, die derzeit in der Eurozone wieder leicht auf 2,1 Prozent gestiegen ist, gibt es keinen Grund, die Zinsen weiter zu senken. Doch die angespannte Lage in der Grande Nation sowie die weiter heftig schwächelnde Konjunktur in der Eurozone als Ganzes, schreien nach einer Zinssenkung.
Durch die französische Brille geschaut ist das noch verständlicher: Hier hat die Inflationsrate seit Monaten schon fast deflationäre Tendenzen und liegt derzeit bei nur 0,8 Prozent. Zwar wächst die Wirtschaft nach einer Prognose der EU-Kommission mit 0,6 Prozent wenigstens etwas im Unterschied zu Deutschland (0,0 Prozent). Das liegt auch daran, dass das Land weniger von den US-Zöllen getroffen wird.
Wegen der anziehenden Arbeitslosigkeit in Frankreich ist die Konsumstimmung aber mäßig. Aufgrund des mangelnden Vertrauens und der hohen Zinsen gehen Investition drastisch zurück. Ein bisschen Unterstützung durch die Geldpolitik der EZB wäre in Paris also mehr als willkommen.
Auch Deutschland könnte in die Krise rutschen
Dennoch geht man an den Finanzmärkten davon aus, dass der EZB-Rat auch in dieser Woche nicht an der Zinsschraube dreht und den richtungsweisenden Einlagezinssatz bei 2,0 Prozent belässt. Dahinter dürfte auch die Absicht stecken, die Dramatik in Frankreich herunterzuspielen.
Auch möchte man ein Zeichen setzen, dass sich auch andere Länder besser am Riemen reißen: Denn mit den vielen Sondertöpfen im Haushalt und dem geplanten starken Anstieg der Verschuldung könnte Deutschland schon bald der nächste Krisenkandidat im Euroraum werden.
Frankreich könnte es durchaus gefallen, wenn auch der Nachbar es mit der Haushaltsdisziplin nicht mehr so ernst nimmt. Das sieht auch der Chef der französischen Notenbank de Galhau so. Der gebürtige Straßburger, der fließend Deutsch spricht, ist denn auch voll des Lobes für das deutsche Konjunkturprogramm der neuen Bundesregierung.
In einem Interview mit der FAZ unterstrich er die Bedeutung für ganz Europa und sprach von einem "historischen Wendepunkt". Dass das Programm ebenfalls auf Pump finanziert ist, stört de Galhau nicht - wenn alle die Statuten über Bord werfen, muss sich schließlich keiner mehr schämen.
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