Sie kramten Kerzen und mit Gas betriebene Campingkocher hervor, um warmes Essen zubereiten zu können. Sie versorgten sich und Nachbarn mit Powerbanks, um ihre Handys funktionsfähig zu halten. Und sie saßen selbst nach Sonnenaufgang im Dunkeln, weil sich die Jalousien nicht öffnen ließen.

Der Stromausfall, der sich am Dienstagfrüh im Südosten Berlins ereignete, sorgte dafür, dass sich die Bewohner von rund 50.000 Haushalten der deutschen Hauptstadt wie in einem apokalyptischen Hollywood-Streifen fühlten. Ohne Strom. Ohne Anschluss an die Welt des 21. Jahrhunderts, die ohne die stetige Versorgung mit Energie nicht vorstellbar wäre.

Das Ausmaß und die Folgen des mutmaßlich von Linksextremisten herbeigeführten Stromausfalls stellten bisherige Blackouts in den Schatten. Das Rote Kreuz richtete Versorgungszentren in Grundschulen ein. Das Technische Hilfswerk sorgte mit Notstromaggregaten dafür, dass in Pflegeheimen zumindest die Beatmungsgeräte funktionierten. Bis sämtliche Haushalte wieder an das Stromnetz angeschlossen waren, vergingen rund zweieinhalb Tage. Erst am Donnerstagnachmittag konnte die Gesellschaft Stromnetz Berlin verkünden, dass alle wieder versorgt seien.

Berlins Regierender Bürgermeister, Kai Wegner (CDU), sagte WELT AM SONNTAG: „Die Betroffenen, darunter viele ältere Menschen und Familien mit Kindern, mussten ohne das Nötigste auskommen – nur weil einige Linksextremisten meinen, ihre Ideologie sei wichtiger als Menschenleben.“ Das sei menschenverachtend. „Ich finde es aber auch erschreckend, dass es ein politisches Vorfeld gibt, das diesen Anschlag achselzuckend hinnimmt und nicht wahrhaben will, wie gefährlich diese Täter sind. Diese Debatte müssen wir jetzt führen“, sagte Wegner. Der Senat arbeite mit Hochdruck daran, die Stadt resilienter zu machen und die Energieversorgung besser gegen Anschläge zu schützen.

Wegners Verweis auf Linksextremisten kam nicht von ungefähr. Denn nur wenige Stunden nach dem Stromausfall erschien auf der linksextremen Internetplattform Indymedia ein Bekennerschreiben. Darin präsentieren sich die Verfasser als anarchistische Gruppe, die den „militärisch-industriellen Komplex“ sowie das Fortschrittsversprechen von Technologie und Kapital angreift. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte im RBB-Fernsehen, dass sie davon ausgehe, dass es sich um ein authentisches Schreiben handle. Spranger sieht gar eine Verbindung zwischen dem Anschlag und einem Brandanschlag auf einen Kabelschacht in Brandenburg im Februar dieses Jahres, der mutmaßlich von Tesla-Gegnern verübt wurde. Der Anschlag auf die Strommasten wird hingegen als gezielter Angriff auf Europas größten Technologiepark in Berlin-Adlershof und die dortige Infrastruktur gerechtfertigt.

Der Stromausfall sei zwar ein „Kollateralschaden“ für Anwohner, aber im Verhältnis zur „Zerstörung von Natur und Leben“ durch ansässige Firmen hinnehmbar. Namentlich genannt werden Unternehmen wie Atos, Astrial, DLR, Edag, Vinci, Jenoptik, Rohde & Schwarz, Siemens und Trumpf, die nach Auffassung der Verfasser enge Verbindungen zu Rüstung, Militär und sicherheitstechnologischen Projekten pflegen.

Das Schreiben dürfte neben der Kriminalpolizei vor allem die Analysten des Verfassungsschutzes beschäftigen. Der Inlandsgeheimdienst untersucht in solchen Fällen Parallelen zu bekannten Mustern der Szene. So ist in dem Text auch von einer kapitalistischen „Todesmaschine“ die Rede. Ähnliche martialische Metaphern tauchen auch in anderen Bekennerschreiben auf, die regelmäßig Konzerne wie Siemens, Bayer, Deutsche Bahn oder Heckler & Koch ins Visier nehmen. Die Argumentation ist immer gleich. Die Konzerne profitierten nicht nur ökonomisch, sondern würden sich aktiv an Krieg, Ausbeutung und ökologischer Zerstörung beteiligen.

Ein immer wiederkehrender Bezugspunkt solcher Texte ist auch Lateinamerika. So prangert das Berliner Bekennerschreiben die Beteiligung von Siemens am umstrittenen Tren-Maya-Projekt an, einer rund 1500 Kilometer langen Bahnstrecke auf der Halbinsel Yucatán. Auch ein Bekennerschreiben der öko-extremistischen Kampagne „Switch Off“, das 2023 nach einem Farbangriff auf das mexikanische Konsulat in Hamburg veröffentlicht wurde, thematisierte die sozialen und ökologischen Folgen des Megaprojekts sowie die Bedrohung indigener Lebensräume.

Verbindung zwischen Bayern und Berlin?

Eine anarchistische Zelle aus Bayern soll ebenfalls gezielt technologische Infrastruktur attackiert haben. Erst Ende Februar hatten Spezialkräfte in München und Umgebung in mehreren Razzien Wohnungen, Vereinsräume und Keller durchsucht und Computer und Schriften sichergestellt. Der Gruppe wird die Herausgabe des Magazins „Zündlappen“ zugeschrieben, in dem immer wieder die Zerstörung von Fahrzeugen und Infrastrukturen als Kampf gegen Technologie und Herrschaft im Namen des Klimaschutzes verherrlicht wurde. Dutzende Brandanschläge auf Funkmasten, Bahntrassen und Energieanlagen in Oberbayern werden der Zelle zugeordnet. Nach Informationen von WELT AM SONNTAG prüfen die Ermittler auch Verbindungen der Zelle nach Berlin.

Denn in der Hauptstadtregion häufen sich Sabotageakte mit ähnlicher Handschrift. In Berlin rechnet der Staatsschutz allein „Switch Off“ inzwischen mindestens 13 Anschläge zu, darunter etwa Anschläge auf den Baukonzerns Cemex. In ihrem Bekennerschreiben bezeichneten die Täter Beton als „Klimakiller schlechthin“. Parallel dazu treten seit Jahren die sogenannten „Vulkangruppen“ in Erscheinung, die für gezielte Attacken auf Infrastruktur verantwortlich gemacht werden. 2023 legten sie mit einem Brandanschlag die Stromversorgung des Tesla-Werks in Grünheide lahm. Ermittler schreiben ihnen mehr als zehn Anschläge zu – von beschädigten Bahntrassen bis hin zu Sabotageakten an Stromleitungen.

Während die Polizei die Urheber des Anschlags zu ermitteln versucht, mühten sich die Experten der Stromnetz Berlin GmbH nach dem Sabotageakt, die betroffenen Haushalte schnellstmöglich wieder mit Strom zu versorgen. Einfach war das nicht. Die Bagger fraßen sich unweit des Anschlagsortes metertief in den Untergrund, um Kabel freizulegen, mit deren Hilfe der Strom auf Alternativwegen zu den Nutzern gebracht wurde.

Ein Sprecher der Stromnetz Berlin verwies auf Anfrage darauf, dass rund 99 Prozent des etwa 35.000 Kilometer langen Netzes der Hauptstadt im Untergrund verliefen. Vor Anschlägen sei es somit relativ gut geschützt. Mittel- bis langfristig sollten auch die derzeit noch oberirdisch verlaufenen sogenannten Freileitungen unter Tage verlaufen. Im Vergleich etwa zu anderen Ländern, etwa den USA, gebe es in Deutschland relativ wenig Stromausfälle, hieß es aus dem Unternehmen.

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