Der Influencer, Aktivist und Kommentator Hasan Piker ist der politische Gegenpol des erschossenen konservativen Aktivisten Charlie Kirk: sozialistisch – manche sagen linksradikal –, für strengere Waffengesetze, pro LGBTQ, ein scharfer Israel-Kritiker und Anti-Zionist. Der 34-Jährige wurde durch seine oft polemischen Beiträge auf YouTube, Twitch und anderen Social-Media-Kanälen bekannt, seine Live-Kommentierung der amerikanischen Wahlnacht im November 2024 hatte 7,5 Millionen Zuschauer.

Piker und Kirk haben bereits öffentlich debattiert, für den 25. September war das nächste Streitgespräch der beiden geplant. Piker wurde in den USA geboren, wuchs in Istanbul auf und studierte in den USA. Er lebt in Los Angeles. Die WELT-Partnerpublikation „Politico“ sprach nach dem Attentat auf Kirk mit ihm.

Frage: Es tut mir sehr leid, dass das Interview unter diesen Umständen stattfindet, aber ich möchte mit Ihnen über den Tod von Charlie Kirk sprechen. Wie haben Sie davon erfahren?

Hasan Piker: Es war der pure Horror. Einige Leute sagten mir [während ich streamte], dass es einen Typen auf Twitter gab, der schrieb: „Charlie Kirk wurde gerade bei der Veranstaltung, auf der ich bin, in den Hals geschossen.“ Ich wusste, dass das gesamte Team von Charlie Kirk dort ist und filmt. Ich dachte: Es kann nicht sein, dass so etwas passiert und niemand davon weiß oder Aufnahmen davon zeigt. Wenn sich während meiner Live-Sendung aktuelle Nachrichten ereignen, insbesondere, wenn es sich um eine Schießerei handelt, gibt es oft viele Fehlinformationen. Deshalb warte ich normalerweise auf eine offizielle Bestätigung, sei es durch einen Journalisten oder durch die Polizei, die eine Erklärung abgibt oder Ähnliches. Aber in diesem Fall wusste ich, dass bei einer Veranstaltung wie dieser viele Kameras dabei sein würden. Also begann ich zusammen mit meiner Community, das Internet zu durchforsten, und stieß sehr schnell auf mehrere Livestreams, die eine Gruppe von Menschen zeigten, die herumrannten, und einen Schuss. Es gab noch ein weiteres Video, das von oben gefilmt worden war und den Moment des Aufpralls zeigte, aber nicht viel mehr. Aber es war ganz klar, dass eine Schießerei stattgefunden hatte und er in den Hals geschossen worden war. Und dann sah ich die eigentliche Nahaufnahme davon, und es war wirklich schrecklich.

Frage: Was war Ihre Reaktion?

Piker: Ich finde das interessant, weil ich ständig über alle Gräueltaten berichte, die sich in Gaza abspielen, jeden Tag, und es sind so viele. Und als Teil meines Berufs sehe ich generell viele schreckliche Bilder aus Konflikten auf der ganzen Welt. Ich denke, jemanden zu sehen, den ich kenne – nicht jemanden, den ich mag, aber dennoch jemanden, den ich seit Jahren kenne, mit dem ich schon diskutiert habe, mit dem ich in zwei Wochen diskutieren sollte, jemanden, der wohl im gleichen Bereich wie ich tätig ist, jemanden, der im Grunde das Gleiche tut wie ich, nur auf der rechten Seite – das ist die eine Angst, die immer im Hinterkopf bleibt, wenn man sich politisch engagiert und an solchen Veranstaltungen teilnimmt. Als jemand, der im Laufe der Jahre Millionen von Morddrohungen erhalten hat, war es für mich erschütternd, das in Echtzeit mitanzusehen.

Frage: Haben Sie jetzt Angst vor ähnlichen Veranstaltungen, die Sie in Zukunft durchführen werden?

Piker: Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich weiß es nicht. Ich werde einfach abwarten, bis sich die Lage etwas beruhigt hat, aber wahrscheinlich werde ich wieder damit anfangen. Als Teil meiner Arbeit nehme ich auch an Protesten teil und werde von Polizisten beschossen. Ich befinde mich ständig in solchen unsicheren Situationen. Es scheint derzeit eine Atmosphäre der Vergeltung zu herrschen, viele Leute sagen sofort: „Wir müssen losziehen und Leute umbringen.“ Sogar meinen Namen nennen sie und sagen: „Wir werden Hasan aus Rache umbringen.“ Es gibt es viele Menschen, die einfach nur sehr wütend und frustriert sind und ihre Wut auf diejenigen richten wollen, die sie für verantwortlich halten. Ich habe mich nie für so etwas ausgesprochen und würde das auch nie tun. Ich würde mich selbst ins Fadenkreuz bringen, wenn das der Fall wäre, oder? Ich sollte in zwei Wochen bei einer öffentlichen Veranstaltung neben diesem Mann sitzen. Aber ab einem bestimmten Punkt kann man sich nicht mehr von Angst leiten lassen. Und das ist seit vielen, vielen Jahren meine Vorgehensweise, trotz all der Morddrohungen, die ich erhalten habe. Das gehört leider einfach dazu. Das sollte es nicht.

Frage: Was sagt es über unsere Nation aus, dass Sie bereits Morddrohungen erhalten haben und Charlie Kirk ermordet wurde? Ich bin skeptisch, dass wir von diesem Abgrund wieder wegkommen können.

Piker: Ich denke, dass politische Gewalt in unserer Generation leider mehr denn je in den Vordergrund unserer Diskussionen gerückt ist. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht bin ich voreingenommen, weil es noch nicht so lange her ist. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in den letzten zehn Jahren meiner Karriere jemals so offensichtlich war, so offen, so gefeiert.

Frage: Und warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Piker: Das ist ganz einfach. Darüber habe ich auch nach dem Mord an Brian Thompson (zum Tatzeitpunkt im Dezember 2024 Chef der größten privaten US-Krankenversicherung United Health; d. Red.) gesprochen, der mutmaßlich von Luigi Mangione begangen wurde. Es wird als Ventil für die Menschen angesehen. Demokratie soll ein Ventil sein. Wenn also die demokratischen Institutionen nicht funktionieren, um den Anforderungen der Gesamtbevölkerung gerecht zu werden, entsteht viel Unzufriedenheit. Und dann geraten die Menschen meiner Meinung nach in eine verzweifelte Lage, sind so wütend, dass sie damit nicht umgehen können, dass sie sich schließlich auf Abenteuer einlassen, auf dezentrale Gewalt wie diese. Und ich denke, dass diese Fälle von politischer Gewalt und Instabilität genau dort ihren Ursprung haben.

Frage: Was sagt es Ihrer Meinung nach über Charlie Kirk aus, dass er Debatten für eine Möglichkeit hielt, dieses Ventil zu öffnen?

Piker: Ich glaube nicht, dass er jemals mit dem Ziel debattiert hat, die Wahrheit zu finden, oder aus intellektueller Neugier. Ich denke, das sagen viele Leute. Debatten sind nur insofern produktiv, als sie Ihre Meinungen mit denen Ihrer Gesprächspartner abgleichen können, und das ist gut, das ist anspornend. Ich habe immer gesagt, dass 40 Prozent des Publikums auf beiden Seiten bereits eine Meinung haben und diese nicht ändern werden. Aber dann gibt es noch 20 Prozent, die in beide Richtungen tendieren könnten. Und für diese 20 Prozent in der Mitte führt man den intellektuellen Schlagabtausch. Für Charlie ging es bei diesem Format eher darum, seine ideologischen Gegner zu demütigen. Und er war sehr erfolgreich mit dieser Art von Propaganda, indem er an Universitäten ging, sich anhörte, was die Leute zu sagen hatten, und ihnen dann die rechten Argumente zu diesem Thema präsentierte. Dabei hat er ein paar Mal richtig zugeschlagen. Das ist ein wichtiger Teil der Debattenkultur. Dennoch kann sie produktiv sein. Es gibt immer noch Menschen, die in diesem Prozess ihre Meinung ändern können, indem sie sagen: „Wow, meine Weltanschauung, die ich für selbstverständlich hielt, ist vielleicht doch nicht so klug.“ Debatten können durchaus produktiv sein, weshalb ich es unterhaltsam fand, mit Charlie zu debattieren.

Frage: Sie haben Luigi Mangione erwähnt – glauben Sie, dass wir in Zukunft mehr von dieser Art politischer Gewalt sehen werden?

Piker: Ich denke, wenn man sich nicht damit befasst, werden viele dieser gesellschaftlichen Wunden nicht heilen. Sie werden sich nur verschlimmern. In dieser Hinsicht sieht die Zukunft leider ziemlich düster aus. Wir brauchen strukturelle Lösungen für diese systemischen Probleme. Es scheint, als würde man sich eher mit politischen Spielchen beschäftigen, mit einem Hin und Her über Narrative und Themen des Kulturkriegs und der Dämonisierung der politischen Opposition, anstatt zu versuchen, diese Probleme anzugehen. Auf den ersten Blick mag das einfach nur unproduktiv erscheinen. Oder vielleicht produktiv, wenn es das Ziel ist, den Diskurs davon abzulenken, konstruktive Antworten auf die Probleme der Menschen zu finden. Aber auf lange Sicht unproduktiv. Denn wie ich bereits sagte, wenn diese Probleme nicht angegangen werden, werden die Menschen zunehmend verbittert. Und in dieser Instabilität tun sie gefährliche Dinge.

Frage: Erzählen Sie mir von Ihrer Entscheidung, mit Charlie zu debattieren: Von wem kam die Einladung, wie haben Sie sich entschieden, warum hielten Sie es für wichtig?

Piker: Ich glaube, es war Dartmouth (College in New Hampshire; d. Red.). Sie haben mein Team kontaktiert, und ich habe zugesagt. Charlie Kirk ist ein konservativer Hitzkopf, der in den letzten Jahren vor der Wahl, während der Wahl und nach der Wahl ein viel stärkeres reales, organisches Wachstum verzeichnet hat, insbesondere mit seinen TikToks. Er ist jemand, der sehr gute Verbindungen zur Regierung hat. Ich scheue mich nicht davor, mit solchen Leuten zu diskutieren. Ich finde es gut und vielleicht sogar produktiv, einen solchen Diskurs zu führen, um zu zeigen, wie seine Weltanschauung aussieht, und sie mit meiner zu vergleichen.

Frage: Wie können wir den Diskurs heilen?

Piker: Ich glaube nicht, dass es darum geht, zusammenzukommen und „Kumbaya“ zu singen. Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist, um das Problem zu lösen. Es gibt einen Gesellschaftsvertrag, an den sich alle halten. Wenn sie ständig das Gefühl haben, dass dieser Gesellschaftsvertrag regelmäßig verletzt wird, oft aufgrund der strukturellen Gewalt, die sie erleben – Armut, dass man sich vieles nicht mehr leisten kann. Wohnraum ist unglaublich teuer, Gesundheitsversorgung ist unglaublich teuer. Die einzige Methode für sozialen Aufstieg war im Laufe der Geschichte eine Hochschulausbildung. Auch die ist unglaublich teuer. Alles scheint unerschwinglich. Alles scheint schlimmer zu sein als für die vorherige Generation. Und ich denke, das ist es, was wir lösen müssen. Wenn nicht, werden die Menschen weiterhin frustriert und wütend sein. Sie sind formbarer, anfälliger für Radikalisierung und eher bereit, gewalttätig zu handeln, wenn sie das Gefühl haben, dass es keine Hoffnung gibt, keine andere Option.

Frage: Was halten Sie davon, dass sich einige Leute über Charlie Kirks Tod lustig machen?

Piker: Ich denke, es ist in gewisser Weise dasselbe wie bei Luigi Mangione. Die Reaktionen darauf (den Mord; d. Red.) waren eher positiv, und es war für viele Menschen schockierend, mich eingeschlossen. Und ich denke, der Grund dafür ist, dass wir einfach bösartiger geworden sind. Das weiß ich auch aus eigener Erfahrung. Ich weiß, dass sich die Rechte freuen würde, wenn ich auf ähnliche Weise ermordet würde, wahrscheinlich sogar noch lauter als einige Liberale. Ich denke, so ist es jetzt einfach. Wir sind sehr polarisiert, und in gewisser Weise ist diese Polarisierung verständlich. In vielerlei Hinsicht denke ich, dass die Rhetorik von Charlie Kirk von vielen Menschen verständlicherweise als von Natur aus gewalttätig angesehen wurde. Ein paar Beispiele, die mir spontan einfallen, sind, dass er selbst nach den Schulschießereien und Waffengewalt, die in den USA viel zu häufig vorkommen, bestimmte Dinge gesagt hat, die meiner Meinung nach viele Menschen frustriert haben – dass Empathie eine Schwäche sei und dass wir uns nach diesen schrecklichen Massenerschießungen nicht von Empathie leiten lassen sollten. Oder dass Waffengewalt ein unglückliches Nebenprodukt der Freiheiten des zweiten Verfassungszusatzes sei. Ich denke, wenn die Menschen das sehen, bekämpfen sie Feuer mit Feuer, wenn man so will. In ihren Köpfen denken sie, dass das in Ordnung ist.

Frage: Woher kommt das Ihrer Meinung nach?

Piker: Ein großer Teil davon ist, dass wir auch gegenüber Gewalt im Allgemeinen abgestumpft sind, völlig abgestumpft – sowohl als Nebenprodukt unserer Außenpolitik rund um den Globus, als auch aufgrund der Tatsache, wie gewalttätig Amerika geworden ist. Ich meine, das war die 46. Schießerei an einer Schule in diesem Jahr, die Schießerei auf Charlie Kirk. Und während das passierte, gab es in Colorado eine weitere Schießerei an einer Schule, eine Stunde, nachdem Charlie Kirk erschossen wurde. Das ist nicht normal. Ab einem bestimmten Punkt sehen die Menschen so viel davon, dass sie sagen: Das interessiert mich nicht wirklich. Und ich glaube, genau da sind wir jetzt. Natürlich versuche ich, meine Menschlichkeit zu bewahren, und ich versuche, andere dazu zu bewegen, dasselbe zu tun. Aber ich verstehe, auch wenn ich selbst nicht daran teilhabe, woher diese Ablehnung kommt.

Frage: Wie bewahren Sie Ihre Menschlichkeit, wenn Sie Bilder wie die, die Sie heute gesehen haben, aufnehmen und in einer zunehmend digitalen Welt leben?

Piker: Meine Familie, meine Freunde. Und ich denke, dass es das perfekte Gegenmittel gegen die Boshaftigkeit des Internets ist, unter Menschen zu gehen. Unter dem Deckmantel der Anonymität werden die Menschen viel grausamer. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen viel weniger bösartig sind, wenn sie die andere Person sehen, wenn sie mit der anderen Person zusammen sind. Und vor dem Internet, vor den technologischen Möglichkeiten, war das die überwiegende Mehrheit unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Es war immer persönlich. Es war immer von Angesicht zu Angesicht. Ich glaube, das haben wir verloren, und deshalb versuche ich, so bodenständig wie möglich zu bleiben – was natürlich ironisch ist, da politische Gewalt wie diese es mir auch erschwert, mich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aber genau deshalb habe ich gesagt, dass ich mein Leben nicht von Angst bestimmen lassen kann.

Dieser Artikel erschien zuerst in der WELT-Partnerpublikation „Politico“. Übersetzt, gekürzt und redaktionell bearbeitet von Jens Wiegmann.

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