Schon mit fünf Jahren habe sie gewusst, dass sie einmal Grundschullehrerin werden wolle, erzählt Verena Kurtenbach. „Es ist mein absoluter Traumberuf, Kinder auf ihrem Weg zu begleiten.“ Nach wie vor gehe sie jeden Morgen gerne zur Arbeit.

Seit Mitte August ist die 35-Jährige die Klassenlehrerin von 21 Erstklässlern – quirligen, ängstlichen, lauten, fröhlichen, wütenden Sechsjährigen, die noch Schwierigkeiten haben mit der Umstellung von der Kita auf die Schule. Viele von ihnen könnten sich noch nicht allein die Schuhe zubinden oder die Jacke schließen, erzählt Kurtenbach. Einige könnten schon ihren Namen schreiben, andere hielten den Stift wie einen Kochlöffel.

Kurtenbach arbeitet an der Geschwister-Scholl-Schule in Wiesbaden, eine von 41 Grundschulen im Umkreis, die im Juni eine Überlastungsanzeige an das hessische Bildungsministerium gestellt hatten. Dass so viele Schulen auf einmal Alarm schlagen, hatte es zuvor noch nie gegeben.

Bis auf die Aushilfskräfte und Quereinsteiger sind alle Lehrer Beamte und dürfen nicht streiken, also hatten sie mit der Anzeige zu Protokoll gegeben, dass sie unter den aktuellen Bedingungen keine Verantwortung mehr für einen gelingenden Unterricht übernehmen könnten. Vertretungskräfte ohne pädagogische Ausbildung seien nur begrenzt einsetzbar, Verwaltungs-Aufgaben nähmen stetig zu, immer mehr Schüler hätten Förderbedarf oder litten unter psychischen Belastungen, heißt es in der Anzeige. Eine fördernde Lernumgebung sei so nicht herzustellen.

Knapp drei Monate sind seitdem vergangen. Geändert hat sich – nichts. Das Bildungsministerium sieht die Zuständigkeit bei den Schulämtern. Diese haben Gespräche mit Direktoren und Personalräten geführt. Maßnahmen sind daraus, bislang zumindest, nicht erfolgt.

Währenddessen versucht Verena Kurtenbach, so gut es geht, ihren Schülern das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Die große Herausforderung seien die weit auseinanderliegenden Fähigkeiten der Kinder. „Wenn ich ein Lernziel habe, etwa die Einführung eines neuen Buchstaben, teile ich die Klasse in mindestens drei verschiedene Gruppen ein“, schildert sie. „Manchen Kindern gelingt es direkt, den Buchstaben aufzuschreiben und auf die Lineatur zu achten. Andere brauchen viele Wiederholungen und Merkplakate.“ Auch feinmotorisch seien sie noch nicht so weit, dass sie schreiben könnten. Mit ihnen muss Kurtenbach dann zunächst die Buchstaben auf dem Boden ablaufen oder in den Sand malen. Im Grunde muss sie 21 Kinder einzeln unterrichten.

„Es ist unmöglich, alle Kinder dasselbe Arbeitsblatt ausfüllen zu lassen“, sagt die Lehrerin. „Wenn ich versuche, eine Mitte zu finden, um das Lernziel der Stunde erfüllen zu können, hängt das zu viele Kinder ab. Ich muss also auf 21 verschiedene Fähigkeiten irgendwie aufbauen, in der Klasse umhergehen und Einzelhilfe leisten.“ Wenn Kurtenbach sich einem Kind, das vielleicht besonders viel Unterstützung braucht, ein paar Minuten am Stück widmet, fehlt ihr diese Zeit bei anderen Kindern, die vielleicht ähnlich viel Unterstützung brauchen oder schon fertig sind und eigentlich differenziertere Aufgaben benötigen.

„Nicht die Erfahrung, zu erkennen, wenn Kind Diagnose hat“

Katja Giesler ist Personalrätin an der Geschwister-Scholl-Schule, die in Klarenthal, einem Wiesbadener Stadtteil mit vielen Zuwanderern liegt. Rund 80 Prozent der 500 Schüler haben einen Migrationshintergrund, eher mehr. „Das Schulamt sagt, dass wir gut versorgt sind. Und es stimmt auch, dass die Grundunterrichtsversorgung abgedeckt ist“, sagt Giesler. Derzeit sei eine halbe Lehrerstelle unbesetzt, ab November seien es 1,5 Stellen. „Aber inhaltlich stimmt das eben überhaupt nicht. Von 32 Lehrkräften an unserer Schule sind sieben nicht pädagogisch ausgebildet, die meisten von ihnen sind Studenten.“ Fast ein Viertel der Lehrer könnte also nur zur Unterstützung eingesetzt werden.

„Die Eltern wissen meist nichts davon, dass ihr Kind von einer Aushilfskraft unterrichtet wird“, sagt Giesler. „Diese haben einfach nicht die Erfahrung etwa zu erkennen, wenn ein Kind eine Diagnose hat, wenn es spezielle Unterstützung braucht, wie man einen Unterricht rhythmisiert, mit Kindern, die einfach nicht zwei Stunden am Stück stillsitzen können.“ Auch Giesler hat mit dem Schulamt gesprochen, gut sei das Klima gewesen. Bloß folgten aus den Gesprächen keine Maßnahmen. „Es heißt eher: Lassen Sie das Ganze nicht so nah an sich heran, oder machen Sie mal eine Fortbildung.“

Das hat nichts mit Gieslers beiden Mindestforderungen zu tun. Erstens kleinere Klassen, um mehr Zeit für die einzelnen Kinder zu haben. Und zweitens einen Sozialpädagogen pro Jahrgang. Dieser könnte helfen, die Konflikte zu bewältigen, die eigentlich nach jeder Pause aufträten, und Schüler mit besonderem Förderbedarf für ein paar Stunden aus der Regelklasse herausnehmen und separat unterrichten.

Das Problem ist nur, dass die staatlichen Schulämter nicht über die Kompetenz verfügen, Maßnahmen wie diese anzuordnen. „Staatliche Schulämter sind gar nicht in der Lage, die Situation zu verbessern oder Stellen aufzubauen“, sagt die Gymnasiallehrerin und Vorsitzende des Gesamtpersonalrats für Wiesbaden, Manon Tuckfeld. „Nur das Kultusministerium kann eine neue Klassengröße definieren oder mehr Ressourcen zuweisen. Und das ist offensichtlich nicht geplant.“ Die Inhalte der Gespräche zwischen Schulamt und Schulleitern seien seit Jahren dieselben. Das Grundproblem aber werde verschleiert: Dass zwar die Versorgung abgedeckt, aber keine ausgebildeten Pädagogen unterrichten und so die Kinder nicht richtig lernen könnten.

„Das Ministerium gibt an, dass die Grundschulen in Hessen gut versorgt sind. Es steht den Lehrern ja nicht auf der Stirn geschrieben, dass sie keine ausgebildeten Pädagogen sind“, kritisiert Tuckfeld. „Wer nicht richtig ausgebildet ist, kann natürlich Kinder nicht bestmöglich fördern.“

So gebe es viele Schüler, die weit unter ihren Möglichkeiten blieben. „Das trifft leider nicht nur auf einen kleinen Teil der Kinder zu, sondern auf eine beträchtliche Summe“, sagt Tuckfeld. „Nicht umsonst haben wir im europäischen Vergleich mit die höchste Quote an jungen Menschen, die ohne einen Abschluss von der Schule gehen.“

In der Tat ist Deutschland ist eines der wenigen OECD-Länder, in denen der Anteil junger Erwachsener ohne Berufsabschluss oder Abitur zwischen in den vergangenen Jahren gestiegen ist – von 14 Prozent auf 16 Prozent.

Hessens Bildungsminister Armin Schwarz (CDU) war selbst lange Gymnasiallehrer, bevor er in die Politik wechselte. Er möchte sich nicht zum Thema äußern. Aber sein Sprecher gibt Auskunft. „Alle unsere Schulen erhalten unter den zur Verfügung stehenden Ressourcen die bestmögliche Versorgung“, erklärt er. Sowohl der Bildungsetat als auch die Stellen für Lehrkräfte seien erhöht worden, für Schulen in sozial herausfordernden Lagen gebe es Extrazuweisungen. Das Bundesland Hessen tue zudem bereits einiges für eine bessere Vorbereitung auf die Einschulung. Für Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen, gibt es ein Jahr vor der Einschulung verpflichtende Sprachkurse.

Hessen ist – zusammen mit Baden-Württemberg – das Flächenland mit der höchsten Migrationsquote von 31 Prozent. Fast ein Drittel aller Vorschulkinder wurde im vergangenen Jahr gefördert. „Mit dieser wichtigen Maßnahme sorgen wir auch aufgrund der in den vergangenen Jahren hohen Zuwanderungszahl dafür, dass das Sprachniveau zum Start in den Grundschulen so weit wie möglich angeglichen wird“, heißt es aus dem Wiesbadener Ministerium. Die Situation der überlasteten Schulen werde nun gemeinsam mit dem Schulamt analysiert, und man werde „passgenaue Maßnahmen ergreifen“. Die Hausspitze besuche ständig – auch unangekündigt – Schulen und tausche sich dort aus.

An die Geschwister-Scholl-Schule wurde der Minister schon mehrfach eingeladen.

Politikredakteurin Freia Peters berichtet für WELT über Familien- und Gesellschaftspolitik sowie Bildung.

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