Etwa eineinhalb Stunden dauert die Überfahrt vom estnischen Festland nach Hiiumaa. Im Fähren-Restaurant auf dem obersten Deck sitzen früh am Morgen um acht vor allem Pendler aus der Hauptstadt Tallinn, nur wenige Touristen haben sich hierher verirrt. Am Horizont ist die Insel bereits sichtbar.

Auf den ersten Blick wirkt Hiiumaa verschlafen, gerade mal 9000 Menschen leben auf dem Eiland. Längst nicht allen Ostseeurlaubern sind die sogenannten Moonsund-Inseln ein Begriff; vier größere Inseln umfasst die estnische Inselgruppe, die zweitgrößte und am weitesten im Norden gelegene ist Hiiumaa.

Noch weniger öffentlich bekannt ist Hiiumaas strategische Bedeutung. Die Lage der Insel zwischen der Bucht von Riga und dem Eingang zum Finnischen Meerbusen bereitet Nato-Planern Kopfschmerzen. Denn Hiiumaa ist in der Ostsee so etwas wie die Suwalki-Lücke an Land.

Der schmale Streifen zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad, benannt nach der polnischen Stadt Suwalki, die sich eben dort befindet, gilt vielen als Schwachstelle der Nato. Im Kriegsfall könnten russische Verbände durch ein Vordringen an dieser Stelle in nur wenigen Stunden das komplette Baltikum von der Versorgung abschneiden.

Eine vergleichbare Rolle könnte Hiiumaa in einem möglichen Konfliktszenario zwischen der Nato und Russland zukommen. Russische Einheiten, so die Befürchtung von Experten, könnten gleich zu Kriegsbeginn, im Sinne einer Überrumpelungstaktik auf Hiiumaa landen. Die Russen könnten dann eine Radaranlage und Flugabwehrsysteme auf der Insel installieren.

Solche Anlagen befinden sich zwar schon im westlichen Militärbezirk Russlands und in Kaliningrad, decken aber längst nicht die gesamte Ostsee ab. Durch eine Besetzung Hiiumaas könnte die russische Armee den Seeweg der baltischen Länder Estland, Lettland, Litauen und dazu auch noch Finnland vom restlichen Nato-Gebiet versperren.

Ein ähnliches Hiiumaa-Szenario wird in dem Bestseller „Wenn Russland gewinnt“ des Sicherheitsexperten Carlo Masala erwähnt. In Masalas Buch indes wird die Einnahme Hiiumaas quasi als nicht zu verhindern angenommen – weniger Aufmerksamkeit findet darin, wie sich die Nato und die Esten selbst auf einen russischen Angriff vorbereiten.

Die Nervosität in Estland steigt seit Monaten. In diesem Jahr haben russische Kampfjets bereits vier Mal den Luftraum des kleinen Landes verletzt. Zuletzt am Freitag: Drei Kampfjets vom Typ MIG-31 seien am Morgen nahe der Ostsee-Insel Vaindloo unerlaubt in den Luftraum eingedrungen und hätten sich insgesamt zwölf Minuten darin aufgehalten, teilte die estnische Armee in Tallinn mit. Estland, Lettland und Litauen besitzen keine eigenen Kampfjets. Die Nato-Verbündeten sichern deshalb im Wechsel den baltischen Luftraum.

Wer mit dem Auto vom Hafen im Osten Richtung Norden fährt, ahnt sofort, wie stark bewaldet Hiiumaa ist. Mehr als die Hälfte des Inselgebietes ist mit Kiefern und Fichten bewachsen, zwischendrin ist das Terrain sumpfig. In der Inselhauptstadt Kärdla mit ihren 3000 Einwohnern leben die Menschen hauptsächlich von der Holzwirtschaft und vom Fischfang. Es gibt aber auch einen Stützpunkt der estnischen Streitkräfte. Dort hat Major Tamel Kapper das Sagen.

„Die Kontrolle über Hiiumaa beeinflusst in Kriegszeiten die Kontrolle über die Ostsee und den Luftraum hier und hat demnach großen Einfluss auf die Landoperationen“, erklärt der 54-Jährige WELT AM SONNTAG. „Im Angriffsfall müssen wir die Russen erst mal kommen lassen. Aber sobald sie hier sind, schlagen wir zurück – mit aller Härte“, sagt Kapper.

„Ich lasse meine Leute nicht an den Stränden kämpfen, im Offenen“, so der Major, dem im Kriegsfall auch verbündete Truppen im Einsatzgebiet unterstehen. „Wir kämpfen in den Wäldern und dort töten wir sie, einen nach dem anderen“, schiebt er nach. Kapper holt ein Messer hervor und zieht es vor seinem Hals entlang.

Kapper und zwei weitere Angehörige der regulären estnischen Armee sind auf Hiiumaa stationiert. Alle anderen sind Reservisten und Soldaten der sogenannten Kaitseliit, der Estonian Defense League (EDL). Von den Briten, die auch schon auf Hiiumaa trainiert haben, werden diese 30.000 Männer und Frauen als „weekend soldiers“ bezeichnet.

Aber die Truppe ist nicht so harmlos, wie ihr Spitzname klingt. „Wir hatten kürzlich Spezialkräfte aus einem Nato-Land hier. In einer Übung, in der wir Angriff und Verteidigung simuliert haben, haben wir ihnen ganz schön zugesetzt. Sie waren beeindruckt von unseren Taktiken“, sagt Kapper nicht ohne Stolz. Welche Taktiken das genau sind, darf er nicht ausführen.

Sicher ist: Hiiumaa zeigt beispielhaft, wie wehrhaft die estnische Gesellschaft ist. Militärische und zivile Bereiche sind eng verschränkt. Fünf Prozent der Inselbewohner sind in der EDL organisiert, Waffen und Munition werden nicht zentral gelagert, sondern bei den Reservisten und EDL-Angehörigen zu Hause. So können nicht alle Soldaten durch einen gezielten Schlag kampfunfähig gemacht werden, und sie lassen sich schnell mobilisieren.

Dazu gibt es über die gesamte Insel verteilt an geheimen Orten „safe houses“. Das sind zivile Gebäude, in denen medizinisches Personal lebt oder in denen es Gerätschaften für die Erstversorgung gibt. Verletzte können hier im Kriegsfall schnell versorgt werden, bis Verstärkung vom Festland eintrifft. Auch Zivilisten, die keine Uniform anziehen, wissen auf Hiiumaa, was zu tun ist. Sie sollen sich im Ernstfall ins Inselinnere zurückziehen.

Fotos von der Ausrüstung dürfen nicht gemacht werden, aber so viel sei gesagt: Kapper und seine Leute verfügen nicht nur über Messer, Pistolen und Maschinengewehre. Antipanzerwaffen und Drohnen spielen in der Verteidigungsstrategie eine große Rolle. Estland ist überdies wie die anderen baltischen Staaten aus der Ottawa-Konvention ausgestiegen und schafft wieder Antipersonenminen an.

„Die estnischen Streitkräfte sind auf Provokationen oder eine mögliche Eskalation vorbereitet, aber sie benötigen eben auch unsere Unterstützung“, sagt Jan Scheer, seit August deutscher Botschafter in Estland. Er tauscht sich eng mit der estnischen Seite aus und ist gut über die Fähigkeiten der Esten und die Nato-Strategie im Bilde.

„Wir kennen hier jeden Meter“

„Die Gesellschaft ist sehr resilient“, fügt er hinzu. „Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Estland ein kleines Land ist. So verfügt es zum Beispiel nicht über eine Luftwaffe mit eigenen Kampfflugzeugen zur Luftraumüberwachung“, erklärt Scheer. Das sogenannte Air Policing der Nato wird in Estland im Wechsel von Bündnispartnern übernommen, auch von der deutschen Luftwaffe, die mit Eurofightern präsent ist.

Jeder auf Hiiumaa wisse, was im Ernstfall zu tun sei, sagt Kapper. Kürzlich meldete ein Insulaner ein ihm unbekanntes Schiff, das einige Seemeilen vor der Küste unterwegs war. Die Russen waren es nicht, aber das Beispiel zeigt, wie aufmerksam die Bevölkerung ist. „Wir können den Russen nicht ‚verweigern‘, auf der Insel anzulanden, aber wir können ihnen ‚verweigern‘, sich hier zu bewegen und festzusetzen. Wir kennen hier jeden Meter. Wir kriegen sie in den Wäldern, wenn sie kommen“, sagt Kapper.

Bemerkenswert ist, dass diejenigen, die auf Hiiumaa Dienst tun, fast alle von der Insel kommen, viele kennen sich. Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine 2022 sind, so berichten die Menschen hier, ganze Freundesgruppen geschlossen in die EDL eingetreten.

Wie viele Tage die Einheiten auf Hiiumaa durchhalten müssten, bis Verstärkung eintrifft, ist unklar. Lediglich über 7000 Soldaten verfügen die regulären estnischen Streitkräfte. Jedoch gibt es eine achtmonatige Wehrpflicht; 40.000 Reservisten ließen sich sofort mobilisieren, danach etwa 200.000 weitere.

Das sind beachtliche Zahlen für ein Land von gerade mal 1,3 Millionen Einwohnern. Auf einen Teil von ihnen – und auf die Nato-Verbündeten, von denen fast ununterbrochen welche auf der Insel sind – setzen die Menschen auf Hiiumaa. Und auf ihre eigenen Fähigkeiten.

Am nördlichsten Punkt der Insel, im Dorf Tahkuna, gibt es einen Leuchtturm, der einst in Paris erworben und 1875 an dieser Stelle zusammengesetzt wurde. Von oben kann man mehr als 30 Kilometer in den Finnischen Meerbusen blicken. In der Nähe gab es mal sowjetische Militäranlagen, und einige Befestigungen sind in Küstennähe immer noch zu finden. Die Esten vermuten, dass es in Moskau Pläne der Anlagen gibt, die Russen das Terrain hier kennen und im Kriegsfall wahrscheinlich genau in Tahkuna anlanden.

Auch Neeme Brus hält das für möglich. Der ehemalige Armeeangehörige, der unter anderem im Irak im Einsatz war und heute als Sprecher der EDL tätig ist, steht vor dem Leuchtturm von Tahkuna. Auch er betont, wie gut Estland auf ein Kriegsszenario vorbereitet ist.

„Bei allem Respekt: Was Professor Masala schreibt, ist nicht gut, es hilft den Russen, weil der Eindruck entsteht, dass sie so stark seien“, sagt Brus. Wegen der Erwähnung von Hiiumaa wurde das Buch von Masala auch in Estland von Journalisten und Experten besprochen. „Darstellungen, dass Estland im Kriegsfall ohnehin eingenommen wird oder wir kampflos vor den Russen stehen, stören mich“, sagt Brus.

Im Auto, auf dem Weg von Tahkuna zum Hafen, zeigt Brus aus dem Fenster. „Die Wälder sehen so friedlich aus, aber hier sind überall gerade Spezialkräfte. Könnt ihr euch vorstellen, dass die Russen hier gegen uns kämpfen sollen?“, fragt er. „Wir haben uns immer unseren Freiheitssinn bewahrt. Für meine Enkelkinder will ich kein Leben ohne Freiheit.“

Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.

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