Gegen 19 Uhr am Samstag eskaliert die Lage in Tiflis. Am Präsidentenpalast in der georgischen Hauptstadt reißen Demonstranten lautstark am Tor, brüllen den schwer bewaffneten Polizisten dahinter ihre Wut in die behelmten Gesichter. Ein Teil des Zauns bricht weg, die Beamten auf dem Gelände werden mit grünen Laserpointern geblendet. Ein Video zeigt, wie ein Demonstrant die Lücke zu durchbrechen versucht, er tritt nach einem Polizisten und der Beamte nach ihm. Böllerexplosionen hallen durch die Gassen, eine Straße weiter wird eine Barrikade angezündet.
Als eine Hundertschaft anfängt, rhythmisch auf ihre Schilde zu schlagen, beginnt die Menge sich aufzulösen. Den Rest erledigen Wasserwerfer und – den später gefundenen Kugeln nach zu urteilen – Gummigeschosse. Trauben schwarz gekleideter Männer huschen durch einen angrenzenden Park, ein Demonstrant ruft „rennt, rennt, die Revolution hat begonnen!“ und verschwindet in einer Seitenstraße.
Weitgehend unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit, überschattet von Kriegen in Gaza und der Ukraine, von Wirtschaftskrise und Koalitionsärger, spielt sich in Georgien ein Drama ab. Seit bald einem Jahr protestieren viele Georgier tagtäglich gegen die Regierungspartei „Georgischer Traum“. An diesem Samstag fanden in dem kleinen Kaukasus-Staat Kommunalwahlen statt. Eigentlich schnödes politisches Alltagsgeschäft.
Aber in Georgien stand diese Wahl für etwas Größeres. Teile der Opposition haben sie boykottiert, weil sie sie als unfair bis ohnehin von der Regierungspartei gefälscht ansehen. Viele internationale Wahlbeobachter sind ferngeblieben. Die Kommunalwahlen sind vor allem eine Rampe, um Wut zu artikulieren.
Spricht man mit Georgiern, bekommt man immer wieder zu hören, das Land entwickle sich im Zeitraffer zu einem Staat „wie Belarus“. Was ist da los am Kaukasus?
Festnahmen, Gewalt, Verletzte – und jede Menge Wut
Die Unruhen haben einen langen Vorlauf. Im Frühjahr 2023 hatte die Regierungspartei „Georgischer Traum“ versucht, ein sogenanntes „Agentengesetz“ durchzusetzen, das die Arbeit von NGOs und Medien deutlich erschwert hätte. Kritiker sahen sich sofort an Russland erinnert, wo Kreml-Chef Wladimir Putin 2012 ein ähnliches Gesetz durchgebracht und es anschließend zur Gängelung von Gegnern eingesetzt hatte. Derartige Gesetze gelten als klassisches Werkzeug im Arsenal von Autokraten, die Staaten in ihrem Sinne umbauen wollen.
Zwar zog die georgische Regierung den als „russisches Gesetz“ kritisierten Plan unter dem Druck der Straße zunächst zurück. Ein Jahr später aber wurde das Gesetz doch beschlossen. Im Oktober 2024 dann gewann der „Georgische Traum“ die Parlamentswahlen, jedoch unter Vorwürfen von Wahlfälschungen. Dennoch blieb es zunächst ruhig im Land.
Nach Brüssel oder nach Moskau?
Als Premier Irakli Kobachidse – ein in Düsseldorf promovierter, Deutsch sprechender Jurist – jedoch wenige Wochen später ankündigte, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 auszusetzen, überspannte er den Bogen. Binnen kürzester Zeit kam es zu Massenprotesten, es gab Festnahmen, Gewalt, Verletzte – und jede Menge Wut.
Denn das Land kämpft seit Langem um seine Richtung: Brüssel oder Moskau? Der Kurs der Regierungspartei, die Ende 2011 vom schwerreichen Bidsina Iwanischwili gegründet wurde, der sein Vermögen einst in Moskau gemacht hatte – dieser Kurs schien immer stärker Richtung Moskau zu weisen. Geopolitisch sowie im Umgang mit Bürgern. Seit Aussetzung der EU-Gespräche wird in Georgien durchgehend demonstriert. Zwar waren zuletzt weniger Menschen zu den Protesten gekommen als in der Anfangszeit. Das Momentum schien erlahmt, wie es bei Massenbewegungen häufig passiert, wenn Regierungen die Wut der Straße aussitzen.
Aber noch immer brodelt es im Land. Wie aufgeheizt die Stimmung rund um diese Wahlen ist, wie brutal es zugehen kann, zeigt die Geschichte von Igor Narmania, dem Vorsitzenden der Jugendorganisation der Oppositionspartei „Vereinte Nationale Bewegung“.
Er selbst kann sie an diesem Samstag nicht erzählen, weil er mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus liegt. An seiner statt erscheint Nikolos Chosroschwili, bei der Bewegung zuständig für Außenangelegenheiten, in einem Café in der Innenstadt von Tiflis. Der 20-Jährige – schmal, kurze Haare, Brille – lässt sich auf ein Sofa fallen und beginnt sofort in hohem Tempo zu erzählen.
„Wir waren mit einigen Bekannten auf dem Weg zu einem Fernsehdreh“, sagt er, noch sichtlich aufgewühlt. „Dann kamen sie und haben uns ohne Vorwarnung von hinten attackiert“. Sie, das seien etwa zehn bezahlte Schläger gewesen. Solche Leute seien typischerweise über organisatorische Umwege mit den Mächtigen im Land verbandelt.
Der Angriff am Freitag, glaubt Chosroschwili, hätte genauso gut tödlich enden können. Ein Video zeigt, wie ein Mann mehrfach mit einem stumpfen Gegenstand auf Narmanias Kopf einschlägt. „Die Ärzte meinten: Zwei, drei Zentimeter weiter, und eine Arterie wäre getroffen worden“, sagt Chosroschwili. Die Attacke ohne Vorwarnung sei eine neue Eskalationsstufe. „Sie wollen einschüchtern, damit weniger Menschen zur Demo kommen“, sagt Chosroschwili.
Er ist müde, er hat Angst, sagt er. Trotzdem will er weitermachen. Er geht davon aus, heute im Laufe der Proteste festgenommen zu werden. Auf seinem linken Unterarm hat er mit Kugelschreiber die Telefonnummer seines Anwalts notiert.
Teile der Opposition hatten auf einen „Machtwechsel“ gehofft
Die Fallhöhe der Demonstration war von Teilen der Opposition im Vorfeld weit nach oben geschraubt worden. Paata Burtschuladse, ein bekannter georgischer Opernsänger, der zudem die nach dem Boulevard vor dem Parlament benannte Aktivistengruppe „Rustaveli Avenue“ anführt, hatte gar einen „Machtwechsel“ angekündigt: Der 4. Oktober werde „der Tag des friedlichen Sturzes“ der Regierung sein, so der 70-Jährige.
In der Woche vor der Wahl und den angekündigten Protesten liegt in Tiflis die Erwartung von etwas Großem in der Luft. Aber kaum jemand traut sich zu, eine konkrete Prognose abzugeben – zu unsicher ist die Lage.
Der Samstag ist ein warmer, sonniger Herbsttag. Ab nachmittags versammeln sich Demonstranten vor dem abgesperrten Parlamentsgebäude in der Rustaweli-Straße und auf dem nahen Freiheitsplatz. Familien mit Kindern sind dabei, aber auch maskierte junge Männer, deren Muskeln ihre schwarzen T-Shirts spannen. Musik dröhnt ohrenbetäubend durch Lautsprecher, georgische Flaggen werden geweht, auch US-amerikanische, ukrainische, sogar vereinzelt deutsche. Oppositionspolitiker Burtschuladse spricht mit lauter Stimme und fordert unter anderem die Inhaftierung von Regierungspolitikern.
Einer der Demonstranten, ein älterer Mann, der sich Devi nennt, erklärt, warum er hier ist: „Wir wollen diese Regierung nicht“, sagt er. „Wir wollen unabhängig sein, insbesondere von Russland“. Georgien habe sich mit Russland „immer“ im Krieg befunden, seit Moskau die Region Anfang des 19. Jahrhunderts erobert hat.
Über den „Georgischen Traum“, so Kritiker, übt Moskau nun auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Kontrolle über Tiflis aus. Die Partei wirbt in Georgien mit der Angst vor Krieg mit Russland. Sie behauptet, eine nicht näher definierte „globale Kriegspartei“ wolle Georgien als zweite Front in den Ukraine-Krieg hineinziehen.
„Die werden alles tun, um ihre Macht nicht aufzugeben – auch, wenn es Blutvergießen beinhaltet“, sagt Tinatin Erkvania, in Berlin promovierte Jura-Professorin und Anhängerin der Partei des inhaftierten Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili. Auch sie fürchtet russischen Einfluss im Land, der „contra georgische Traditionen und Werte“ gehe. Deshalb sei sie heute hier. „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – alles wurde komplett zerstört“, den aktuellen Regierungskurs könne sie daher „nicht akzeptieren“.
Von außen scheint es schwer vorstellbar, dass ein auch bei Deutschen beliebtes Urlaubsland, bekannt für Rotwein, Khinkali-Teigtaschen und Lebensfreude, das den Status eines EU-Beitrittskandidaten hält und in dem sich diesen Beitritt laut Umfragen 80 Prozent der Menschen wünschen – dass sich also auch ein solches Land zu einem autoritären Staat entwickeln könnte. Aber die Anzeichen dafür mehren sich. Das lässt sich an ganz unterschiedlichen Vorkommnissen ablesen.
Seit Längerem schon bekommt diese Entwicklung etwa der deutsche Botschafter zu spüren. Peter Fischer ist, wie andere westliche Diplomaten, wiederholt von Parteifunktionären verbal angegangen worden. Das übertrug sich zuletzt auch auf Beschimpfungen auf der Straße. Nachdem Anfang September Demonstranten von bewaffneten Männern angegriffen und teils verletzt worden waren, warf der georgische Parlamentssprecher Fischer zudem vor, für die Eskalation verantwortlich zu sein.
Repressionen nehmen zu
Denn Fischer mische sich durch Kritik an der Regierungspartei in georgische Innenpolitik ein. Der wiederum bezeichnete die Vorwürfe als „haltlos“. Erst wurde er vom georgischen Außenministerium einbestellt – das erste Mal in der Geschichte deutsch-georgischer Beziehungen. Vergangene Woche dann bestellte das Auswärtige Amt in Berlin die georgische Geschäftsträgerin ein.
Zudem häufen sich Berichte ausländischer Journalisten, denen am Flughafen die Einreise verwehrt oder von denen wegen angeblicher Vergehen während der Berichterstattung über Proteste eine hohe Geldstrafe gefordert wird. Unabhängige Medien im Inland derweil bangen um ihre Existenz, etwa wegen Klagen und Diffamierungskampagnen. Kritische Behördenmitarbeiter werden unter Druck gesetzt oder gekündigt.
Wer nicht auf Regierungslinie ist, für den herrscht in Georgien zunehmend ein Klima der Angst. Immer wieder gibt es Inhaftierungen, zuletzt traf es mehrfach Führungsfiguren von Oppositionsparteien oder andere prominente Regierungsgegner. Der einstige enge Iwanischwili-Mitarbeiter Giorgi Batschiaschwili wurde Medienberichten zufolge gar aus seinem Exil in den Vereinigten Arabischen Emiraten entführt. Zurück in Georgien sitzt er nun in Haft. Im Juli wurde er im Gefängnis verletzt, laut ihm durch die Prügelattacke eines Mitgefangenen.
In Tiflis derweil hat es am Samstag keine Revolution gegeben. Dass der „Georgische Traum“ die teilweise boykottierte Kommunalwahl als deutlichen Sieg für sich reklamiert, geht beinahe unter. Nach offiziellen Angaben sind 21 Polizisten und sechs Demonstranten ins Krankenhaus gebracht worden.
Die frühere Präsidentin Salome Surabischwili vermutet hinter dem Versuch, den Präsidentenpalast zu stürmen, eine von der Regierung in Auftrag gegebene Inszenierung. Und Premier Kobachidse mahnt: „Die Antwort (des Staates) wird nicht leicht oder nachsichtig sein.“
Nachrichtenredakteur Florian Sädler verbringt aktuell zwei Monate als Stipendiat der „Internationalen Journalistenprogramme“ (IJP) in Tiflis.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.