Vor dem Koalitionsgipfel am Mittwoch greift CSU-Chef Markus Söder das geplante Wehrpflicht-Modell von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) scharf an. „Eine Wischi-Waschi-Wehrpflicht hilft niemandem. Freiwilligkeit kann nur ein erster Schritt sein“, sagte der bayerische Ministerpräsident der „Bild am Sonntag“. „In Zeiten großer Bedrohung brauchen wir mehr als eine Fragebogen-Armee.“
Die Bundesregierung plant einen freiwilligen Bundeswehr-Dienst. Mit einem Fragebogen sollen alle jungen Männer im wehrfähigen Alter nach ihrer Fitness und Dienstbereitschaft befragt werden. Das Gesetz soll eigentlich am kommenden Donnerstag in die erste Lesung im Bundestag gehen. Doch die Unionsfraktion will dies offenbar aufschieben. Es sei nicht klar genug definiert, wann aus Freiwilligkeit eine Pflicht werde.
Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) forderte in den Zeitungen der Funke Mediengruppe in dieser Woche bereits eine „sofortige Wehrpflicht“, Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) mahnte, man müsse „ambitionierter“ planen. Die wiederholten Verletzungen des Nato-Luftraums durch russische Drohnen und Flugzeuge heizten die Debatte in den vergangenen Tagen weiter an.
Verteidigungsminister Pistorius will derweil am Zeitplan festhalten – und kritisiert den Koalitionspartner scharf. „Das Verhalten der Unionsfraktion ist fahrlässig, weil es möglicherweise die Einführung des neuen Wehrdienstes und damit auch die Wiedereinführung der Wehrerfassung verzögert“, sagte der Verteidigungsminister dem „Handelsblatt“. Die Union forderte er auf, „am Zeitplan festzuhalten und sich so einzubringen, wie es das parlamentarische Verfahren vorsieht“.
Ein schneller Aufwuchs der Bundeswehr sei „sicherheitspolitisch vordringlich“, betont die Union. „Das kann zunächst über eine Freiwilligkeit erfolgen – aber mit klaren Folgen, wenn die Aufwuchsziele nicht erreicht werden“, sagt Thomas Erndl (CSU), verteidigungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion. „Und genau jene Zielmarken und Vorsorge für den Fall, dass die Freiwilligkeit nicht ausreicht, vermissen wir im vorliegenden Gesetzesentwurf.“ Langfristig strebe man einen „Gesellschaftsdienst mit einem enthaltenen Wehrdienst“ an. „Darin sehen wir einen Nutzen für die Gesellschaft und die jungen Erwachsenen, der deutlich über die verteidigungspolitischen Aspekte hinausgeht und den Zusammenhalt in der Gesellschaft erheblich stärken würde“, so Erndl zu WELT.
SPD kritisiert „Forderungen von der Seitenlinie“
Die SPD pocht auf den Koalitionsvertrag, in dem ein zunächst freiwilliger Wehrdienst vereinbart wurde. „Es wäre sehr gut, wenn wir zügig zur Verabschiedung des Gesetzes kämen, um überhaupt mehr Personal für die Bundeswehr und insbesondere für die Reserve gewinnen zu können. Die aktuelle Art der Diskussion führt nun genau dazu nicht“, sagt Siemtje Möller, stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende. Wer das Gesetz verändern oder anpassen will, müsse das im parlamentarischen Verfahren tun. „Forderungen von der Seitenlinie sind hier aktuell nicht hilfreich.“
Ob die Freiwilligkeit ausreicht, werde eine Evaluation des Verteidigungsministeriums zeigen. Derzeit sei ein Anstieg der Freiwilligen zu verzeichnen. Dies lasse zuversichtlich auf die Auswirkungen des geplanten Gesetzes blicken. Sollte sich die Sicherheitslage verschärfen und der Zulauf nicht ausreichen, könne das „Pflichtelement“ immer noch aktiviert werden. „Jeder, der sich intensiver mit der Materie und der Wehrpflicht auseinandergesetzt hat, weiß ganz genau, dass es zum jetzigen Zeitpunkt weder zu einer Rückkehr zur alten Wehrpflicht kommen kann noch kommen sollte. Es gibt dafür weder den Bedarf noch die Kapazitäten bei der Bundeswehr“, so Möller zu WELT.
Dass die CDU den Gesetzesentwurf des Koalitionspartners so früh infrage stelle, zeige, „wie unsortiert und instabil“ sich die Unionsfraktion verhalte, kritisiert Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann. „Abseits inhaltlicher Fragen bereitet uns der erneute Streit innerhalb der Koalition Sorge“, so Haßelmann. Wieder bestehe Uneinigkeit in wichtigen Themen. „Auch in anderen Fragen, wie der Drohnenabwehr und dem Schutz vor hybriden Bedrohungen kommt die Regierung nicht richtig voran.“
Haßelmann fordert mehr Engagement in der Verteidigungspolitik. „Natürlich zeigen Putins anhaltende Angriffe auf die Ukraine sowie die diversen offenen und subtilen Provokationen und Drohungen in Europa, dass wir in unsere Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit investieren müssen“, so die Grünen-Fraktionsvorsitzende zu WELT. „In Cybersicherheit, den Schutz unserer Kritischen Infrastruktur, in Bevölkerungsschutz und eine Ertüchtigung der Bundeswehr.“
Dafür müsse die Bundeswehr zu einem attraktiven Arbeitgeber gemacht werden. „Sie hat ihr Potenzial bei der freiwilligen Personalgewinnung bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.“ Es brauche eine Strategie: „Schon vorhandenes Personal muss in der Truppe gehalten, neues gezielt angeworben und ehemalige Kräfte müssen über die Reserve zurückgeholt werden. Und zwar jetzt. Auch die Ausrüstung muss verbessert werden“, sagt Haßelmann. Zudem brauche es stärkere Bemühungen, das Engagement in Bevölkerungs- und Zivilschutz sowie beim Technischen Hilfswerk oder den Feuerwehren zu erhöhen.
Die Linke lehnt sowohl den Pistorius-Vorschlag ebenso ab wie die Forderung nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht. „Viele junge Menschen, die vom Zwangsdienst betroffen wären, fühlen sich dadurch unter Druck gesetzt. Sie brauchen unsere Unterstützung, denn niemand sollte gezwungen werden, einen Dienst zu leisten, den er nicht freiwillig antreten möchte“, sagt Desiree Becker, Sprecherin für Friedens- und Abrüstungspolitik der Linksfraktion. „Die Sicherheitslage wird nicht durch Wehrpflichtleistende verbessert, sondern durch verantwortungsvolle Politik und diplomatische Bemühungen, die zu einem Waffenstillstand und einem Ende des Krieges führen können.“
Die Politik leiste zu wenig für die Jugend, so Becker. „Die jungen Menschen sitzen in maroden Schulen, in überfüllten Klassen, mit zu wenigen Lehrer:innen – weil das Geld lieber in Rüstung gesteckt wird, statt in Bildung.“ Der Jugend werde wiederum vorgeworfen, „sie sei undankbar und wolle keinen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten“. Viele Jugendliche engagierten sich ehrenamtlich und interessierten sich für ein freiwilliges Jahr, doch die bestehenden Angebote seien zu schlecht finanziert unter oft schlechten Arbeitsbedingungen. „Anstatt junge Menschen zu unterstützen – sie in Ausbildung oder Studium zu begleiten und ihnen echte Perspektiven zu geben – behandelt der Staat sie lieber als billige Reserve für den Niedriglohnsektor oder als Kanonenfutter für das Militär“, so Becker zu WELT.
Die AfD wollte sich auf WELT-Anfrage nicht äußern. Die Frage der Wiedereinführung der Wehrpflicht ist ein Dauerkonflikt in der Partei.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.
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