Das Gespräch fängt locker an. Die Altkanzlerin im rotbraunen Blazer mit brauner Bernstein-Kette wird vom Moderator des ungarischen Onlinemediums „Partizan“ unter anderem nach ihren Begegnungen mit dem damaligen und jetzigen US-Präsidenten Donald Trump gefragt. Alte Fotos werden gezeigt. Angela Merkel gibt zu Protokoll, dass sie und Trump hinsichtlich der protektionistischen Handelspolitik, die der US-Präsident auch in seiner aktuellen Amtszeit betreibt, oft „anderer Meinung“ gewesen seien, aber auch immer wieder „Kompromisse“ gefunden hätten.

Im Verlauf des 47 Minuten langen Gesprächs, das unter anderem auf „Youtube“ abrufbar ist, kommt die CDU-Politikerin, die bei „Partizan“ auch und vor allem ihre Memoiren „Freiheit“ bewerben will, ebenfalls auf den Ukraine-Konflikt zu sprechen.

Das, was sie dann sagt, fasst unter anderem die „Bild“ unter der Schlagzeile „Merkel gibt Polen Mitschuld am Ukraine-Krieg“ zusammen. In der Passage, auf die sich das Blatt bezieht, spricht Merkel über das – auch von ihr ausgehandelte – Minsker Abkommen. Dieses Abkommen sei „alles andere als perfekt gewesen“, und es habe auch nie „richtig gehalten“, wohl aber habe es in den Jahren 2015 bis 2021 „eine Beruhigung“ der schon damals angespannten Lage „herbeigeführt“. Dies habe auch dazu geführt, dass die Ukraine „Kraft sammeln“ könne und „ein anderes Land werden könne“.

„Dann müssen wir eben daran arbeiten, dass wir eine gemeinsame Haltung haben“, sagt die Altkanzlerin

Im weiteren Verlauf des Gesprächs (der Moderator fragt auf Ungarisch, die Altkanzlerin antwortet auf Deutsch) legt die 71-Jährige ihre ganz eigene Sicht auf die Geschehnisse da. Gegenüber „Partizan“ führt Merkel (ab Minute acht) aus: „2021, im Juni, habe ich gefühlt, dass das Minsk-Abkommen von Putin nicht mehr ernst genommen wird, und deshalb wollte ich ein neues Format, damals gemeinsam mit Präsident Macron, dass wir mit Putin direkt als Europäische Union sprechen.“

Jedoch sei sie damals auf Widerstand gestoßen, so die Politikerin weiter. Wörtlich beklagt sich Angela Merkel: „Das wurde von einigen nicht unterstützt. Das waren vor allem die baltischen Staaten, aber auch Polen war dagegen.“

Die besagten Länder (insgesamt vier) hätten „Angst“ gehabt, „dass wir keine gemeinsame Politik gegenüber Russland haben“. Ihre Meinung sei gewesen, so Merkel weiter, dass dann eben verhandelt werden müsse, O-Ton Merkel: „Dann müssen wir eben daran arbeiten, dass wir eine gemeinsame Haltung haben.“ Merkel schließt ihre Ausführung mit den Worten: „Auf jeden Fall ist es (das neue Gesprächsformat, d. Red.) nicht zustande gekommen. Dann bin ich aus dem Amt geschieden, und dann hat die Aggression Putins begonnen.“

Die Pandemie hat viele Gespräche zum Erliegen gebracht, sagt Merkel

In dem Interview betont Angela Merkel immer wieder, wie wichtig ihrer Meinung nach die Aufrechterhaltung eines Dialogs auch zwischen verfeindeten Lagern sei.

Wiederholt gibt sie auch zu bedenken, dass der Ausbruch der Corona-Pandemie viele Gesprächskanäle habe abbrechen lassen und auch die internationalen Beziehungen belastet habe. Videokonferenzen, so die Politikerin, seien kein Ersatz für Gespräche Auge in Auge. „Hätte Putin die Ukraine auch überfallen, wenn es die Corona-Pandemie nicht gegeben hätte?“, spekuliert sie an einer Stelle und räumt auch selbst ein: „Das kann keiner sagen.“ Aber sie betont dann noch einmal: „Das Corona-Virus hat die Weltpolitik verändert, denn wir konnten uns nicht mehr treffen“. Putin selbst etwa habe, so die Altkanzlerin „aus Angst vor der Corona-Pandemie“ nicht mehr am G20-Gipfel im Jahr 2021 teilgenommen.

Wenn man sich „nicht treffen und Meinungsverschiedenheiten austragen könne“, dann findet man auch keine „neuen Kompromisse“ mehr, so Merkel. Videokonferenzen reichten in einer solchen Lage nicht. Dieser Problematik habe sie, so sagt sie, in ihrem Buch sogar ein eigenes Kapitel gewidmet („Weltpolitik im Schatten der Pandemie“).

Angela Merkel war von November 2005 bis Dezember 2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Minsk II oder auch das Minsker Abkommen wiederum wurde am 12. Februar 2015 unter Vermittlung der OSZE, Deutschlands, Frankreichs, von Vertretern der Ukraine, Russlands sowie der Separatisten in der Ostukraine unterzeichnet. Es baute auf dem gescheiterten ersten Minsker Protokoll von 2014 auf und hatte das Ziel, den Konflikt in der Ostukraine zu beenden, einen Waffenstillstand herzustellen und politische Schritte wie Wahlen in den Separatistengebieten und eine Verfassungsreform in der Ukraine einzuleiten.

Das Abkommen krankte an einer Vielzahl von Gründen: dem gegenseitigen Misstrauen, anhaltenden Kampfhandlungen und der fehlenden Umsetzung zentraler Punkte, wie etwa der Kontrolle der ukrainisch-russischen Grenze oder dem politischen Sonderstatus der Separatistengebiete. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 gilt Minsk II endgültig als gescheitert.

Ihre Vision für die Beendigung des Ukraine-Krieges schilderte Merkel gegenüber „Partizan“ dann so: Europa müsse auf einer Seite „militärisch stärker“ werden, und dies geschehe ja auch schon. „Aber ich glaube genauso, dass es, wie im Kalten Krieg, immer auch der Diplomatie bedarf“, bekräftigt die ehemalige Kanzlerin dann noch. Ziel sei, dass Russland den Krieg „nicht gewinnt“ und die Ukraine ein „freier Staat“ bleibt.

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