Es sind schockierende Details, die rund um die Messerattacke auf die Bürgermeisterin von Herdecke ans Licht kommen. Nach Informationen der „Bild“ wurde Iris Stalzer offenbar stundenlang im Keller ihres Hauses von ihrer 17-jährigen Adoptivtochter gefoltert. Mit einem Deospray und einem Feuerzeug soll das Mädchen versucht haben, ihre Mutter anzuzünden. Anschließend soll sie mit zwei Messern auf die 57-Jährige eingestochen haben – insgesamt 13 Stichverletzungen stellte die Polizei fest.
Das mutmaßliche Motiv: Rache. Die Teenagerin wählte später offenbar selbst den Notruf. Die Staatsanwaltschaft wertet das als Rücktritt von der Tat. Deshalb wurde bislang kein Haftbefehl erlassen. Das Mädchen und ihr 15-jähriger Bruder befinden sich weiterhin in der Obhut des Jugendamtes. WELT TV hat mit dem Strafverteidiger Adam Ahmed gesprochen.
WELT: Herr Ahmed, können Sie nachvollziehen, warum die Staatsanwaltschaft trotz dieser Details keinen Haftbefehl erlassen hat?
Adam Ahmed: Ich gönne jeder Beschuldigten und jedem Beschuldigten eine faire Behandlung, aber das kann ich nicht nachvollziehen. Weshalb hier kein Haftbefehl wegen versuchten Totschlags oder sogar versuchten Mordes erlassen wurde, ist für mich unverständlich.
War der Rücktritt freiwillig oder nur Kalkül?
WELT: Es heißt, die 17-Jährige habe den Notruf gewählt und damit die Tat abgebrochen. Aber sie soll ihre Mutter zuvor stundenlang gefoltert haben. Da müsste die Staatsanwaltschaft doch tätig werden. Es gilt ja das Jugendstrafrecht, aber das reicht doch in diesem Fall aus, oder?
Ahmed: Ja, das reicht grundsätzlich. Die entscheidende Frage ist, ob die Staatsanwaltschaft den Fall als versuchten Totschlag oder versuchten Mord einstuft. Bei mindestens 13 Messerstichen spricht man als Strafrechtler von einem Vernichtungswillen – wäre die Tat vollendet worden, könnte man sogar von einer Übertötung sprechen. Nun haben wir keine Vollendung, weil der Notruf gewählt wurde. Juristisch entscheidend ist: War der Rücktritt freiwillig oder nur Kalkül? Wenn der Notruf nicht freiwillig, sondern Teil einer Täuschung war, dann liegt kein strafbefreiender Rücktritt vor – und damit zumindest ein versuchter Totschlag.
WELT: Man muss doch aber die gesamte Vorgeschichte betrachten. Es gab offenbar schon im Sommer einen Vorfall, das Jugendamt war eingeschaltet. Spielt das in diesen Fall hinein oder muss man das getrennt betrachten?
Ahmed: Das spielt auf jeden Fall mit hinein. Es kann sogar für die Bewertung von Mordmerkmalen relevant sein. Vieles spricht für eine geplante Tat. Der Notruf wirkt nicht spontan, sondern durchdacht.
WELT: Wenn die Staatsanwaltschaft trotz all dieser Informationen weiterhin sagt, das Jugendamt sei zuständig – könnten Ermittlungen eingeleitet werden, wenn eine außenstehende Person Anzeige erstattet?
Ahmed: Nach meinem Verständnis hat die Staatsanwaltschaft den Fall bereits im Blick. Entscheidend wird sein, ob das Justizministerium als weisungsbefugte Stelle eingreift – auch wegen des öffentlichen Drucks. Es ist für niemanden nachvollziehbar, dass man hier nur von gefährlicher Körperverletzung und einem Rücktritt ausgeht. Eine Weisung des Ministeriums wäre aus meiner Sicht angemessen, um den Fall neu zu bewerten.
WELT: Herr Ahmed, ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen. Ich denke, dieser Fall von Herdecke ist noch lange nicht abgeschlossen.
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