Es ist kurz nach vier Uhr am Montagmorgen in Tel Aviv, als schon Hunderte Israelis auf dem „Platz der Geiseln“ stehen. Niemand weiß genau, wann es so weit sein wird, niemand will den Moment verpassen. Seit zwei Jahren denken sie hier an die Entführten, zeigen Fotos von ihnen, hoffen und bangen, weinen.

Heute ist es anders. Ab heute soll alles vorbei sein. Gegen sieben Uhr bricht etwas auf, das schwer zu beschreiben ist. Mittlerweile sind Tausende Menschen hier. Ihnen ist anzusehen, wie der ganze Stress langsam abfällt und sich in pure Feierstimmung auflöst.

Erst sieben Geiseln, die freikommen, dann dreizehn. Zuerst als Gerücht, dann als Nachricht, dann als Gewissheit. Alle noch lebenden israelischen Geiseln sind frei. Israel hält den Atem an. Dann schreit es, singt es, umarmt sich.

Ein älterer Mann sinkt auf die Knie. Eine junge Frau schreit in ihr Telefon: „Sie sind wirklich frei!“ Eine Gruppe junger Männer prostet sich mit Wein zu. Zwei Jahre lang hatten Familien in Israel auf diese Nachrichten gehofft, oft vergeblich. Heute ist es so weit.

Mit der Freilassung der letzten 20 von früher einmal 250 Geiseln erfüllte die Terrororganisation Hamas einen der zentralen Punkte der Vereinbarungen aus der vergangenen Woche. Nach insgesamt 738 Tagen Gefangenschaft wurden sie in zwei Gruppen zunächst dem Roten Kreuz übergeben und dann nach Israel gebracht, wo sie sich jetzt in Krankenhäusern erholen.

Am Nachmittag wurden zudem die ersten zwei der 28 toten Geiseln, die sich noch in Gaza befinden, an das Rote Kreuz übergeben. Im Gegenzug begann Israel damit, etwa 2000 palästinensische Häftlinge freizulassen – darunter etwa 250 Palästinenser, die zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren.

Unter den befreiten Israelis ist auch der 24-jährige Pianist und deutsch-israelische Staatsbürger Alon Ohel. Sein Foto geht als eines der ersten um die Welt. Es wird auch auf dem Bildschirm am „Platz der Geiseln“ gezeigt. Aufrecht, aber ausgezehrt steht er neben einem Militärfahrzeug, er trägt eine Sonnenbrille, angeblich soll er auf einem Auge erblindet sein.

Auch Evyatar David ist frei – der Mann, den die Hamas in einem Tunnel filmte, gezwungen, sein eigenes Grab auszuheben. Heute umarmt er seine Mutter. Jedes Mal, wenn die Bilder über den Bildschirm laufen, jubeln die Massen.

Es sind Bilder, die Israel nie vergessen wird. Und doch erzählen sie nur die Oberfläche eines Traumas. Die psychische Last, die Folterberichte, die Einsamkeit, der Hunger im Hamas-Tunnelsystem unter Gaza – sie werden erst noch ans Licht kommen. Aber nicht heute. Heute zählt nur: Sie leben.

Während in Tel Aviv die Hymnen erklingen, setzen am Flughafen Ben-Gurion die Räder der „Air Force One“ auf. Donald Trump landet in Israel als US-Präsident, aber gefeiert wird er wie ein Erlöser.

Auf dem Weg in die Stadt fliegt seine Maschine über den Strand – am Boden hängen Banner: „Thank you Donald“ und „Habayta – bring them home“. Auch in der Knesset wird er empfangen wie ein Staatsheld. Mehrfach stehende Ovationen, Jubelrufe. Er lobt Israel, attackiert seine Kritiker, drückt Benjamin Netanjahus Hand wie die eines alten Freundes.

Die Freilassung der Geiseln bezeichnete er als „unglaublichen Triumph für Israel und die Welt“. Das Abkommen zwischen Israel und der Hamas sei nicht nur „das Ende eines Krieges“, sondern der Beginn „eines neuen Nahen Ostens“, fügte Trump hinzu. Heute ende ein „langer und schmerzhafter Alptraum“ für Israelis und Palästinenser. „Die Sonne geht über einem heiligen Land auf, das endlich Frieden gefunden hat.“

Aber ist der Krieg wirklich vorbei? In Israel sind viele skeptisch, was die nächsten Schritte angeht. „Wir können nicht erkennen, dass die Hamas zu einer Entwaffnung bereit ist“, sagte ein israelischer Diplomat WELT.

Möglicherweise ist auch das ein Grund, warum Netanjahu die Einladung von Trump, mit ihm gemeinsam nach Ägypten weiterzufliegen, abgelehnt hat. Offiziell nannte Israels Ministerpräsident die religiösen Feiertage als Grund, weshalb er nicht mitkommen könne.

In Ägypten findet an diesem Nachmittag ein „Gipfel für den Frieden“ statt, bei dem das Abkommen zwischen der Hamas und Israel formell besiegelt werden soll. Den ägyptischen Gastgebern zufolge soll es Gespräche über eine Festigung der Waffenruhe zwischen den Kriegsparteien und zum Wiederaufbau des Gaza-Streifens geben. An dem Gipfel nimmt auch Bundeskanzler Friedrich Merz teil. Die Teilnahme von Netanjahu war zunächst noch angekündigt, kurz darauf aber wieder abgesagt worden.

Klar ist aber: Schon jetzt wird in der israelischen Regierung darüber gerungen, wie es in Gaza weitergehen soll. Netanjahu will die Präsenz behalten und begründet dies auch damit, dass die Hamas nicht bereit ist, die Waffen niederzulegen. Aber was bedeutet das dann für Trumps Pläne, Truppen aus Nachbarländern zur Friedenssicherung einzusetzen? Es gibt viele offene Fragen.

Doch an diesem Montag will Israel trotz aller Probleme erst mal eines: die Rückkehr der lebenden Geiseln feiern.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.