In Madagaskar beginnt das Ende der Mächtigen oft auf dem Platz des 13. Mai in Antananarivo. Hier, in Madagaskars Hauptstadt, stürzte das Volk 1972 (am 13. Mai), 1991 und 2009 seine Präsidenten. Nun hat erneut eine Bewegung die politische Ordnung der Insel vor der Südostküste Afrikas erschüttert, diesmal angeführt von der ersten Generation, die vollständig im digitalen Zeitalter aufgewachsen ist.
Sie nennen sich „Gen Z Mada“ – junge Frauen und Männer in ihren Zwanzigern. Seit Wochen versammeln sie sich auf dem Platz. Was früher Parteiapparate und Gewerkschaften leisteten, übernehmen bei ihnen TikTok und Telegram. Eine zentrale Führung gibt es nicht, dafür ein klares Symbol: ein Totenkopf aus der japanischen Anime-Serie „One Piece“, wobei der typische Strohhut durch eine madagassische Variante ersetzt wurde.
Sie bedienen sich einer Protestkultur, die sich an die Symbolik der Gen-Z-Proteste in anderen Ländern anlehnt – von Nepal über Indonesien bis Kenia. Überall taucht die Flagge mit Totenkopf und Strohhut aus „One Piece“ auf. In der Serie kämpfen die sogenannten Strohhut-Piraten für Freiheit und gegen eine korrupte Weltregierung. Auslöser waren zunächst die katastrophalen Zustände in der öffentlichen Versorgung.
„Die Hauptbeschwerden betreffen den Zugang zu Wasser und Strom, aber auch das Recht auf Meinungsfreiheit, die Achtung der Menschenrechte und den mangelnden Einsatz im Kampf gegen Korruption und Armut“, sagte Mialisoa Randriamampianina, Direktorin des madagassischen Büros der Bürgerrechtsorganisation Transparency International, WELT. „Diese Bewegung basiert auf dem außergewöhnlichen Einsatz junger Madagassen aus allen Gesellschaftsschichten.“
In den vergangenen Wochen waren die Rufe nach dem Rücktritt von Präsident Andry Rajoelina immer lauter geworden. Der 51-Jährige hatte die Zivilgesellschaft in den vergangenen Monaten regelrecht erdrückt und reagierte auch jetzt mit Härte. Mindestens 22 Menschen wurden von der Polizei getötet, darunter Jugendliche. Die Gen Z, deren Wut auch von den rasant steigenden Lebenshaltungskosten angefacht wird, machte dennoch weiter – und scheint nun Erfolg zu haben.
Denn Rajoelina ist verschwunden. Ein geplanter TV-Auftritt wurde abgesagt. In einer späteren Facebook-Ansprache erklärte der Präsident vage, er habe sich „an einen sicheren Ort“ begeben, um sein Leben zu schützen. Nach Informationen des in der Region bestens informierten Radiosenders RFI war Rajoelina an Bord eines französischen Militärflugzeugs ausgeflogen worden, Gerüchten zufolge nach Dubai und angeblich in Absprache mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron.
Rajoelina hat neben der madagassischen auch die französische Staatsbürgerschaft. Im frankofonen Afrika, wo Frankreichs Ruf ruiniert ist, ist das bekanntlich nicht das populärste Attribut. Sein Vater war ebenfalls Madagasse, diente aber als Offizier in der französischen Armee und bekam, wie in Frankreich üblich, dafür die französische Staatsangehörigkeit. Bei der sich anbahnenden Revolution war die auch in Madagaskar zunehmende antifranzösische Stimmung jedoch zweitrangig.
Einen Rücktritt lehnt Rajoelina ab, stattdessen klammert er sich im Exil an die Macht. Am Dienstag löste er aus der Ferne das Parlament auf, nachdem die Opposition angekündigt hatte, ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn wegen „Amtsaufgabe“ einzuleiten. Der Schritt sei „notwendig, um die Ordnung wiederherzustellen“, schrieb der 51-jährige Rajoelina auf X. Er ebne den Weg für Neuwahlen, die frühestens in 60 Tagen stattfinden könnten. Ein Akt der Verzweiflung, seine Rückkehr erscheint unter den aktuellen Umständen unwahrscheinlich.
In den vergangenen Jahren gab es in mehreren afrikanischen Ländern digital geprägte Proteste junger Menschen gegen verkrustete Eliten, wenn auch mit weniger Erfolg als nun in Madagaskar. In Kenia stürmten im vergangenen Jahr Gen-Z-Demonstranten das Parlament in Nairobi, nachdem eine neue Steuerreform verabschiedet worden war. Dutzende starben, Präsident William Ruto zog das Gesetz zurück.
In Nigeria initiierten Jugendliche Proteste gegen Polizeigewalt, in Uganda richtete sich ihr Zorn gegen digitale Zensur, in Togo gegen eine geplante Verfassungsänderung, die den Präsidenten auf Lebenszeit an der Macht halten sollte. Und in Marokko gingen erst im September Tausende junge Menschen auf die Straße – gegen Investitionen in Fußballstadien für die WM 2030 und für Investitionen in Schulen und Krankenhäuser.
In Madagaskar wird wohl nun erstmals ein afrikanischer Präsident im Rahmen der Gen-Z-Proteste fallen. Entscheidend für Rajoelinas Flucht war auch, dass sich die Capsat-Eliteeinheit der Armee öffentlich gegen ihn gestellt hat. Die Soldaten verweigerten den Befehl, weiter auf Demonstranten zu schießen, und schlossen sich dem Protest an. „Wir wollen keine Macht, sondern dass das Töten aufhört“, erklärte ein Offizier am Samstag in einer Fernsehansprache. Sie hätten die gesamte Armee unter ihre Kontrolle gebracht.
Umgeben war der Sprecher von teils vermummten Soldaten. Derartige Bilder hat man in Afrika während der vergangenen fünf Jahre öfter gesehen, wenn auch eher im Westen des Kontinents. Das Ambiente erinnerte stark an die gängigen Mechanismen der Verkündigung eines Putschs.
Vor 16 Jahren war Rajoelina noch in umgekehrter Rolle. Damals marschierte die Capsat mit Tausenden Demonstranten gegen den damaligen Präsidenten Marc Ravalomanana, besetzte das Armeehauptquartier und übergab die Macht einem jungen Bürgermeister, der sich als Hoffnungsträger der Jugend inszenierte: eben an Rajoelina, der als ehemaliger Clubbetreiber den Spitznamen „DJ-Präsident“ trug.
Ausgerechnet der Mann, der einst mit 34 Jahren zum jüngsten Präsidenten der Welt wurde, wird nun von der Gen Z aus dem Land gejagt.
Christian Putsch ist Afrika-Korrespondent. Er hat im Auftrag von WELT seit dem Jahr 2009 aus über 30 Ländern dieses geopolitisch zunehmend bedeutenden Kontinents berichtet.
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