Die zwei Brüder, einer von ihnen fast noch ein Kind, die unter Beteiligung des Vaters auf den Straßenstrich geschickt wurden. Die Geschwister aus Südosteuropa, die in mehreren Bundesländern Diebstähle und Einbrüche begingen, zu denen sie von ihrer Familie gezwungen wurden. Oder der „Loverboy“, der seine 16-jährige „Freundin“ online Fremden zum Sex anbot – und ihr drohte, falls sie aufhören wolle, wäre das „ein Ticket in den Wald“.
Sie alle sind Fallbeispiele aus der Analyse „Durchs Raster gefallen? Kinder und Jugendliche als Betroffene von Menschenhandel in Deutschland“, die die Berichterstattungsstelle Menschenhandel des Deutschen Instituts für Menschenrechte am Mittwoch vorgelegt hat. Sie basiert auf Umfragen und Interviews an Fachberatungsstellen für Betroffene in ganz Deutschland. „Kinder und Jugendliche werden im Rahmen von sexuellen Handlungen oder kriminellen Aktivitäten wie Drogenhandel, Bettelei oder Arbeit ausgebeutet“, sagte Naile Tanis, Leiterin der Berichterstattungsstelle. „Menschenhandel und Ausbeutung stellen grundsätzlich eine Gefährdung dar und machen damit staatliches Eingreifen unerlässlich.“
Wie viele Kinder und Jugendliche betroffen sind, lässt sich nur schwer beziffern. Im Bundeslagebild des Bundeskriminalamts (BKA) wurden im Jahr 2024 gerade einmal 246 Fälle registriert. Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern sowie Einschätzungen der Beratungsstellen deuteten allerdings darauf hin, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher sein dürfte, sagte Tanis. „Viele der betroffenen Minderjährigen bleiben unsichtbar – aus Angst vor den Tätern, aus Scham oder weil sie sich selbst nicht als Ausgebeutete erkennen.“
Auch in der Praxis würden bestimmte Formen von Menschenhandel, etwa die Ausbeutung zur Begehung von Straftaten wie Diebstahl oder Drogenhandel nicht als Ausbeutung erkannt. Teilweise würden die Jugendlichen sogar selbst als straffällig eingeordnet – obwohl Deutschland laut EU-Menschenhandelsrichtlinie und UN-Kinderrechtskonvention einen klaren Schutzauftrag für sie habe, so Tanis. Viele Betroffene würden entweder nicht als Opfer wahrgenommen oder fielen „komplett durchs Raster“, gaben die für die Studie befragten Fachkräfte zu Protokoll.
Wichtig sei deshalb die Sensibilisierung aller Beteiligten für alle Formen der Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Bisher gibt es aber bundesweit nur eine Fachberatungsstelle, die auf die Zielgruppe spezialisiert ist – die in Berlin ansässige IN VIA Fachberatungs- und Koordinierungsstelle bei Handel mit und Ausbeutung von Minderjährigen.
Es sind Analysen wie diese, die der Berichterstattungsstelle Menschenhandel auch bei der Erstellung ihres Monitors „Menschenhandel in Deutschland“ dienen. Er wurde im vergangenen Oktober erstmals herausgegeben und soll alle zwei Jahre erscheinen. Der Monitor bündelt polizeiliche Daten von Bund und Ländern sowie Fallbeispiele aus Fachberatungsstellen und versucht so, Licht in das Schattenreich von Menschenhandel, Arbeitsausbeutung, Zwangsprostitution und bandenmäßig organisierten Diebstählen zu bringen. Damit kommt Deutschland seiner Verpflichtung aus der EU-Menschenhandelsrichtlinie nach.
Zu den Institutionen, die dafür Daten zuliefern, gehört auch der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK), ein Zusammenschluss von 43 spezialisierten Fachberatungsstellen. Erwachsen aus der Frauenrechtsbewegung, sind sie vor allem Anlaufstelle für von sexueller Ausbeutung betroffene Frauen, wie der jüngste Datenbericht des Kreises zeigt.
Demnach wurden im vergangenen Jahr 868 Fälle von Menschenhandel dokumentiert, 23 Prozent mehr als im Vorjahr. In 659 Fällen stimmten die Betroffenen der Auswertung ihrer Fälle zu, sodass ein genauerer Blick auf die Problemlagen möglich war. Mit 68 Prozent weit vorn: die Ausbeutung für sexuelle Dienstleistungen. 84 Prozent der Hilfesuchenden seien Frauen gewesen, mehr als die Hälfte von ihnen aus westafrikanischen Staaten wie Nigeria und Guinea, die deutsche Staatsbürgerschaft hätten nur acht Prozent, berichtet die stellvertretende Geschäftsführerin Sarah Schwarze.
Damit zeigte sich in den Fachberatungsstellen ein anderes Bild als etwa im Lagebericht Menschenhandel des Bundeskriminalamts, wo im Bereich sexuelle Ausbeutung deutsche Staatsbürgerinnen die größte Gruppe stellen. „Wahrscheinlich, weil deutsche Betroffene mehr über ihre Rechte wissen und sich daher eher an die Ermittlungsbehörden wenden“, vermutet Schwarze.
Insgesamt offenbaren die Daten aus den Fachberatungsstellen deutlich höhere Fallzahlen als das BKA-Lagebild, das nur Fälle mit abgeschlossenen Ermittlungsverfahren auflistet. „Unsere Daten zeigen, dass eine große Lücke zwischen Polizeistatistiken und der Situation in den Fachberatungsstellen besteht. Viele Fälle erreichen die Polizei nicht: Lediglich für 206 der 659 Fälle wurde ein Ermittlungsverfahren dokumentiert“, sagte Claudia Robbe, KOK-Vorstandsmitglied und Mitarbeiterin der Fachberatungsstelle FIZ in Stuttgart.
Wie eine junge Mutter in der Zwangsprostitution landete
Als Beispiel für eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit wird der Fall einer Rumänin geschildert, die von einer Verwandten mit einem vermeintlich guten Arbeitsangebot nach Deutschland gelockt wurde und dort in der Zwangsprostitution landete. „In den nächsten zwei Jahren steckte sie in einer Spirale aus Angst, Zwangsprostitution, Kontrolle und heftiger körperlicher Gewalt“, heißt es in dem Bericht.
Als die Frau schwanger wurde und ein Frühchen zur Welt brachte, habe die Zuhälterin sie gedrängt, das Baby im Krankenhaus zurückzulassen. Doch das Pflegepersonal habe Verdacht geschöpft und das Jugendamt und eine Beratungsstelle eingeschaltet. Die junge Frau wurde in einer Mutter-Kind-Einrichtung untergebracht, die Zuhälterin konnte aufgespürt und verhaftet werden. Doch so erfolgreich verlaufen die wenigsten Verfahren. „Die Strafverfolgung und die Strafverfahren sind häufig sehr schwierig und wenig erfolgversprechend, selbst wenn die Betroffenen aussagen“, sagt Schwarze.
Die Gründe, wie Menschen in ausbeuterische Verhältnisse geraten, sind dem Bericht zufolge vielfältig. Falsche Versprechungen über Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten könnten dabei ebenso eine Rolle spielen wie Unkenntnis über die eigenen Rechte und die Situation in Deutschland. Oft gerieten Menschen auch durch Notlagen in Abhängigkeitsverhältnisse, die durch mangelnde soziale Netzwerke und fehlende Sprachkenntnisse noch verstärkt werden können. Darüber hinaus nutzten die Täter verschiedenste Strategien, um die Betroffenen unter Druck zu setzen und sie daran zu hindern, aus der ausbeuterischen Situation zu entkommen.
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Menschenhandel und Ausbeutung seien enorm, heißt es weiter. „Die Betroffenen sind oft jahrelang massiven Bedrohungen, Isolation, Freiheitsberaubung sowie körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt. Dies kann zu ernsthaften körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen führen. Eine gute medizinische und psychotherapeutische Versorgung ist deshalb für Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung essenziell.“
Sabine Menkens berichtet über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.
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