Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sprach in Potsdam erst nur über Erfolge der Migrationspolitik aus seiner Sicht: über Rückführungen, Ordnung und Fortschritte. Dann fiel der entscheidende Satz: „Wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“
Kurz darauf brach eine Debatte los. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge fragte im Bundestag, wie man ein solches „Problem“ eigentlich erkennen solle – außer an der Hautfarbe. Die Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann sprach von einer Formulierung, die „verletzend und unanständig“ sei. Der Linke-Fraktionsvorsitzende Sören Pellmann ging noch weiter: „Der offensichtliche Ausrutscher Ihrer Formulierung war nicht nur deplatziert, sondern es hat einen weiteren Stachel in unsere Demokratie gesetzt.“
Auch aus den eigenen Reihen wurde Unmut laut. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) widersprach dem Kanzler: „Berlin ist eine vielfältige, internationale und weltoffene Stadt. Das wird sich immer auch im Stadtbild abbilden“, sagte Wegner dem „Tagesspiegel“. Es gebe ein Problem „mit Gewalt, Müll und Kriminalität in der Stadt. Aber das kann man nicht an der Nationalität festmachen.“ Wegner warnte vor verallgemeinernden Aussagen in Bezug auf Kriminalität und Tätergruppen. „Kriminalität sollte man nie mit einem Gefühl begegnen, sondern immer mit belastbaren Zahlen“, sagte er. Es sei wichtig, Täterkreise zu benennen, wo sich diese in den Statistiken zeigten: „Aber das zu pauschal zu sagen, halte ich für falsch.“
Doch woran erkennt man die Ursachen für Probleme im Stadtbild? Antworten darauf finden sich nicht in der Rede des Kanzlers, auch nicht in der Empörung im Parlament. Sondern dort, wo diese Probleme Wirklichkeit sind. In Berlin-Wedding zum Beispiel, mitten im alten Arbeiterviertel, am Leopoldplatz.
Steigt man an der U-Bahn-Station aus, steht man auf einem weiten Platz zwischen Marktständen und Betonbänken. Auf den Bänken sitzen alte türkische Männer, trinken Bier und Tee, spielen Karten. Es riecht nach kaltem Rauch, nach Imbiss-Fett und Autoabgasen. Neben dem angrenzenden „Café Leo“ wartet Sven Dittrich. 47 Jahre alt, Anwohner, Vorsitzender der Bürgerinitiative „Wir am Leo“. Seit 17 Jahren lebt er hier, direkt neben dem Platz.
Dittrich führt durch ein Gelände, das nur wenige Hundert Meter misst, aber eine lange Geschichte enthält. Vor vier Jahren, erzählt er, sei die Lage außer Kontrolle geraten. Während der Pandemie und in den Monaten danach hätten sich täglich bis zu 200 Drogenabhängige auf dem Platz aufgehalten. Mehr als 20.000 gebrauchte Spritzen seien in einem Jahr gefunden worden.
„Dann hat der Konsum von Crack alles verändert“, sagt Dittrich. „Die Menschen verelenden schneller.“ Hinter den Marktbuden beginnt der Aufenthaltsbereich für die Drogensüchtigen. Ein weißer Container, in dem sauberes Spritzbesteck ausgegeben wird. Daneben ein Transporter mit vier kleinen Kabinen zum Konsum. Beides betreibt der Verein „Fixpunkt“. Täglich treffen hier zahlreiche Abhängige zusammen, aber der Platz ist sauber. Die Müllabfuhr kommt mittlerweile täglich. Gleich neben dem Aufenthaltsbereich: ein Kinderspielplatz.
„Ursprünglich war der Bereich für Alkoholsüchtige gedacht“, erzählt Dittrich. „Dann kamen die Heroinsüchtigen. Danach die Crack-Süchtigen.“ Heute trennt nur eine kniehohe Umzäunung den Spielplatz von der offenen Drogenszene. Die Bürgerinitiative hat zwar eine weiße Abdeckplane als Sichtschutz angebracht, viel bewirkt sie aber nicht.
„Das hier ist kein Ort, den man schönreden kann“, sagt Dittrich. „Man tritt morgens aus der Tür und sieht Menschen mit heruntergelassenen Hosen, die eine Vene suchen, die noch nicht komplett zerstochen ist.“
„Starke Präsenz der Polizei hat geholfen“
Die Polizei kennt den Leopoldplatz gut. Seit Februar dieses Jahres gilt hier eine Waffen- und Messerverbotszone. Regelmäßige Kontrollen, ständige Präsenz. Die Bilanz: weniger Gewalt, aber mehr Drogendelikte. Zwischen Oktober 2024 und Mai 2025 zählte die Polizei 189 sogenannte Katalogstraftaten – schwere Delikte wie Raub, Körperverletzung oder Drogenhandel. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es noch 217. Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen stieg leicht von 39 auf 44. Raubdelikte gingen zurück, von 41 auf 37.
Deutlich verändert hat sich der Drogenhandel. Der unerlaubte Handel mit Kokain, einschließlich Crack, stieg von null auf 17 Fälle. Die Beamten sprechen von „Kontrolldelikten“ – Straftaten, die erst durch verstärkte Präsenz sichtbar werden.
Auch bei Gewaltdelikten zeigt sich laut Polizei der Effekt der neuen Zone: Messerangriffe gingen zurück – von zehn auf fünf Fälle. Die Zahl der Taten unter Verwendung von Schusswaffen blieb gering.
Am Platz selbst hat sich die Stimmung verändert. Die Polizei ist sichtbar, das Ordnungsamt auch. Viele Dealer meiden inzwischen die zentrale Nazarethkirche, wo früher Heroin geraucht und gespritzt wurde. Einige schwarze Männer stehen dort noch in den Büschen, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen.
„Die starke Präsenz der Polizei hat geholfen“, erzählt Dittrich. Früher habe hier jeder machen können, was er wollte. Jetzt wisse man, dass das vorbei sei. „Es ist ein Platz, an dem sich etwas bewegt. Langsam, aber sichtbar.“
Dittrich bleibt am Rand des Weges stehen, blickt auf den weißen Container, in dem Spritzbesteck verteilt wird. „Natürlich sieht man hier viele Menschen mit Migrationshintergrund“, sagt er. „Aber das ist nicht das eigentliche Problem.“
„Viele der Drogendealer haben keine Aufenthaltsgenehmigung und können keiner normalen Arbeit nachgehen“, sagt er. „Da muss man sich aber auch fragen: Wer hat wirklich Bock darauf, Drogen zu verkaufen? Die meisten machen das aus einem Mangel an Alternativen, um zu überleben. Auch bei den Konsumenten haben wir dieses Bild.“
Dittrich betont: „Aber auch hier darf man es sich nicht zu einfach machen. Wir sind hier im Wedding, wir haben auch Suchterkrankte, die hier schon seit Generationen mit ihren Familien leben und dann in die Drogensucht abgerutscht sind. Sie sehen dann vielleicht ausländisch aus, sind aber Deutsche. Wir haben auch Ukrainer hier, auch viele Deutsche ohne Migrationshintergrund.“ Daher solle man nicht „nur nach dem Aussehen gucken“.
„Trotzdem haben wir natürlich immer noch viel Frustration und Ohnmacht bei den Anwohnern“, sagt Dittrich. „So ein Problem verschwindet nicht von heute auf morgen.“ Nicht jeder versuche, das Problem so differenziert zu sehen. Auch das könne er aber verstehen. Dann lächelt er kurz, müde. „Empathie hört halt auf, wenn das erste Mal in deinen Hauseingang gekackt wird.“
Trotz allem hat sich am Leopoldplatz auch etwas zum Positiven verändert. Zwischen Frust und Routine ist ein neues Miteinander entstanden. Polizei, Ordnungsamt, Sozialarbeit und Anwohner treffen sich regelmäßig beim „Runden Tisch Leopoldplatz“, um sich auszutauschen.
Aus diesen Treffen ging der sogenannte Sicherheitsgipfel hervor, den der Regierende Bürgermeister Wegner im Herbst 2023 einberief. Es ging nicht nur um Sicherheit, sondern auch um Sauberkeit, Obdachlosigkeit, Suchtbekämpfung. Für den Leopoldplatz wurden konkrete Maßnahmen beschlossen: mobile Sozialarbeit, ein fester Platzdienst, bessere Toiletten, kulturelle Angebote. Keine großen Reformen, aber Schritte, die im Alltag spürbar sind. „Der Sicherheitsgipfel hat geholfen, dass wir anders miteinander umgehen“, sagt Dittrich. „Nur so können wir die Probleme hier eindämmen.“
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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