Das Tor zur Altstadt markiert eine Grenze. Hinter mir liegt die moderne Metropole Jerusalem, mit Highspeed-Zügen, Malls und dichtem Straßenverkehr. Vor mir beginnt ein anderes Jahrhundert.

Das Jaffa-Tor führt in enge Gassen aus hellem Kalkstein, in denen Händler dicht gedrängt um Kundschaft buhlen. Die Luft riecht nach Staub, Olivenholz und getrocknetem Thymian. Hier, im Herzen Jerusalems, treffen sich die drei großen Weltreligionen auf kaum einem Quadratkilometer: Islam, Christentum und Judentum. Man sieht Nonnen in schwarzem Habit, arabische Bewohner mit Kufiya, orthodoxe Juden mit Schläfenlocken.

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Jerusalem verändert sich – leise, aber tiefgreifend. Ultraorthodoxe Juden, die Haredim, dominieren zunehmend das Stadtbild. Die Stadt hat rund 980.000 Einwohner, davon ist inzwischen mehr als ein Drittel ultraorthodox. Das liegt vor allem an den hohen Geburtenraten – durchschnittlich sechs bis sieben Kinder pro Familie. Mehr Viertel der Stadt werden stärker von einer Gruppe definiert, die sich von der säkularen Welt abgrenzt – und sie zugleich politisch stärker mitbestimmt.

Ich bin gekommen, um die Freitagspredigt an der Al-Aksa-Moschee zu erleben – ein Ort, über den die Welt spricht, den aber nur wenige wirklich kennen. Nach wie vor hören wir täglich Berichte über Spannungen zwischen Juden und Moslems, über Gewalt, über Zorn. Ich will hören, wie dieser Ort selbst klingt, wenn an ihm gebetet wird.

Vom Jaffa-Tor gehe ich Richtung Erlöserkirche, wo Pilger Kerzen anzünden. Dazwischen bieten Händler Granatapfelsaft an – süß, rot, intensiv – ein Geschmack, der die Zunge betäubt. Ein Mönch in brauner Kutte zieht gemächlich vorbei. Über ihm blüht ein Bougainvillea-Busch in grellem Pink. Es ist ein Bild wie aus einer Postkarte – friedlich, fast zu schön.

Doch kaum biege ich in die schmalere Gasse Richtung Tempelberg, ändert sich die Stimmung. Zwei schwer bewaffnete israelische Soldaten stehen an der Ecke. Ihre Blicke sind kontrolliert, neutral. Hier endet die Touristenwelt.

Die Altstadt Jerusalems steht offiziell unter israelischer Kontrolle, seit Israel 1967 Ostjerusalem besetzt und später annektiert hat. Doch die Sicherheitsverhältnisse sind komplex – sie spiegeln das politische Spannungsfeld der Stadt wider. Die israelische Polizei ist die Hauptverantwortliche für Sicherheit, Ordnung und Zugangskontrollen in der gesamten Altstadt.

Unterstützt wird sie von der Grenzpolizei (Magav), einer paramilitärischen Einheit, die besonders an den Toren der Altstadt und an der Klagemauer präsent ist. Sie kontrolliert den Personenverkehr, führt Durchsuchungen durch und sichert religiöse Veranstaltungen. Besonders sensibel sind die Freitage an der Al-Aksa-Moschee: Dann werden zusätzliche Einheiten stationiert, Straßen gesperrt und Zugangsbeschränkungen für palästinensische Männer unter 50 Jahren verhängt. So wie heute.

Und dann ist da der islamische Waqf. Eine religiöse Stiftung unter jordanischer Verwaltung, die für die innere Verwaltung des Tempelbergs – also für die Al-Aksa-Moschee und den Felsendom – zuständig ist. Die Waqf-Wächter, die sogenannten Mutawalli sorgen dort für Ordnung, leiten den Gebetsbetrieb und koordinieren ihn mit der israelischen Polizei.

Die Al-Aksa-Moschee, das drittheiligste Heiligtum des Islam nach Mekka und Medina, liegt nur wenige Hundert Meter entfernt – aber der Zugang ist streng geregelt. Nichtmuslime dürfen sie nur zu bestimmten Stunden betreten, nie während des Gebets. Ich werde aus der Menge herausgegriffen, weil ich auffalle.

Ob ich Muslim sei? Ich verneine. Aber ich kann in einer Nische neben dem Eingang zum Tempelberg sitzen, von wo aus ich fast alles sehe und höre.

Der Platz füllt sich. Männer in weißen Hemden, Frauen mit bunten Kopftüchern, Kinder mit kleinen Wasserflaschen. Alle drängen sich in Richtung der Kuppel, die in der Sonne glüht.

Mir gegenüber, auf der anderen Seite zum Eingang, sitzen Ahmed und sein Freund auf einem Mauervorsprung. Beide rauchen schweigend. Ich gehe hinüber, frage sie, wie sie die Lage erleben. Ahmed antwortet ohne Zögern: „Schlimmer als früher. Die Siedler rücken immer weiter vor. Während der Olivenernte kommen sie, schlagen die Leute, zerstören die Bäume. Niemand kann sein Land erreichen. Niemand schützt uns.“

Sein Freund, der seinen Namen für sich behält, nickt und fügt leiser hinzu: „Vor 1948 lebten Juden, Muslime und Christen hier ohne Probleme. Unser Konflikt ist nicht mit den Juden – es ist der Zionismus, die Besatzung. Es gibt Juden, die an unserer Seite stehen. Aber die Regierung – Ben-Gvir, Smotrich, Netanjahu – das sind keine Politiker, das sind Kriminelle.“

Dann lacht er, bitter: „Und unsere eigene Regierung? Eine Mafia. Selbst die Mafia hat Regeln. Diese hier nicht.“ Ich frage, ob er an zwei Staaten glaubt. Er sieht mich an, als hätte ich etwas Naives gefragt: „Zwei Staaten? Vielleicht auf dem Papier. Aber solange keiner den anderen wirklich akzeptiert, bleiben es Mauern.“ Er zeigt mit der Hand nach oben zur Al-Aksa-Kuppel. „Das ist Gottes Land, nicht Israels, nicht Palästinas. Hier soll jeder beten dürfen.“

Dann ertönt der Ruf des Muezzins. Ein Ton, klar und vibrierend, breitet sich über die ganze Altstadt aus. Gespräche verstummen, die Händler schließen ihre Stände. Die Menge bewegt sich plötzlich wie ein einziger Körper – ruhig, zielstrebig, ehrfürchtig.

Ich setze mich wieder in die Nische vor dem Kontrolltor. Von hier aus sehe ich, wie die Menschen an mir vorbeiströmen. Jeder trägt etwas anderes: einen Teppich, ein Gebetsbuch, manchmal nur einen Blick voller Erwartung.

Ich höre das Echo der Predigt durch die Lautsprecher: Worte über Gottesfurcht, Einheit, Barmherzigkeit. Über die Pflicht, Unrecht zu meiden, über Brüderlichkeit. Doch auch darüber, dass sich die Menschen nicht nach Herkunft und Rasse unterscheiden – aber durch ihr Maß an Frömmigkeit und Glauben. Und weiter: „Die wahre islamische Brüderlichkeit basiert nicht auf Emotion oder Stammesdenken, sondern auf Glauben und Gottesfurcht. (...) Je mehr der Muslim seinem Bruder in Not beisteht, desto stärker ist sein Glaube.“ Sowie: „Das Leben, der Besitz und die Ehre eines Muslims sind unantastbar“.

Der Imam zitiert den Propheten: „Soll ich euch nicht auf etwas hinweisen, das besser ist als Fasten, Gebet und Almosen?“ Sie sagten: „Ja, oh Gesandter Allahs.“ Er sagte: „Die Versöhnung zwischen den Menschen, denn Zwietracht zerstört den Glauben. (...) Darum, ihr Diener Allahs: Pflegt die Bedeutung der Glaubensbrüderlichkeit im Umgang miteinander. Insbesondere wir, die wir in Jerusalem (…) leben, brauchen es heute dringender denn je, die Bedeutung der Brüderlichkeit zu verbreiten. (…) Diese Stadt ist ein Zeugnis für die Gefährten des Propheten, für Gelehrte und Fromme, die hier lebten, Wissen verbreiteten und den Glauben festigten. Daher gebührt es uns, ihre Spur fortzusetzen, unsere Beziehungen auf Liebe und Einigkeit zu gründen, die Moscheen zu beleben und die Bande des Glaubens zu stärken.“

Nein, die Predigt ist kein politischer Aufruf, keine Anstachelung zu konkreter Gewalt. Was aber auffällt: Die Aussöhnung, die Liebe, die Brüderlichkeit bezieht sich ausdrücklich und ausschließlich auf die Muslime. So entsteht der Eindruck: Es geht darum, die Reihen geschlossen zu halten. Das ist nicht verboten und auch kein Hass.

Aber ich frage mich dennoch: Was nimmt jemand mit, der dieser Predigt zuhört?

Nach dem Gebet löst sich die Menge langsam auf. Die Händler öffnen wieder ihre Stände, das Summen der Gespräche kehrt zurück. Nur an den Kontrollpunkten bleibt die Spannung sichtbar – die Waffen, die Blicke, das Misstrauen.

In der Menge, die durch das Tor hinausströmt, erkenne ich Ahmed. Er sagt: „Weißt du, im Westjordanland gibt es Menschen, die ihr ganzes Leben lang Jerusalem nicht betreten dürfen. 35 Jahre alt – und sie haben Al-Aksa nie gesehen. Ich komme aus Ramallah. Ich darf nur hierher, weil ich einen amerikanischen Pass habe.“ Er schaut in die Ferne. „Das ist kein Frieden. Das ist eine Pause zwischen zwei Kriegen.“

Constantin Schreiber ist Teil des Axel Springer Global Reporters Netzwerk, zu dem neben WELT auch „Bild“, „Business Insider“, „Onet“ und „Politico“ gehören.

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