Trotz des Respekts vor Wolodymyr Selenskyjs Führung in Kriegszeiten wächst der Druck auf den Präsidenten – seine Kritiker sprechen von demokratischen Rückschritten in der Ukraine.
Nach Ansicht des früheren Staatschefs und Erzrivalen Selenskyjs, Petro Poroschenko, müssen die internationalen Partner Kiews einen schleichend sich ausbreitenden Autoritarismus klar benennen. In dieser Woche hatte die EU der Ukraine zugleich Defizite im Kampf gegen Korruption attestiert.
„Unsere Demokratie war eine Quelle der Stärke und Widerstandskraft; sie zu untergraben würde die Ukraine weit mehr schwächen als jede äußere Kritik“, sagte Poroschenko, der das Land von 2014 bis 2019 führte, im Gespräch mit der WELT-Partnerpublikation „Politico“.
„Während wir gegen die russische Autokratie kämpfen, können wir es uns nicht leisten, zu Hause in autokratische Praktiken abzugleiten“, warnte Poroschenko. „Die Ukraine kann es sich nicht erlauben, ihre Unabhängigkeit zu verlieren – aber ebenso wenig darf sie sich aber erlauben, ihre Demokratie zu verlieren.“
Poroschenkos tätigte die Aussagen kurz nach der Veröffentlichung eines Berichts der EU-Kommission am Dienstag. Dieser bewertete die Fortschritte der Ukraine auf dem Weg zu EU Beitrittsgesprächen recht positiv, äußerte jedoch auch Vorbehalte mit Blick auf demokratische Rückschritte.
Poroschenko führt die größte Oppositionspartei im ukrainischen Parlament, und zwischen ihm und Selenskyj herrscht eine tiefe Abneigung. Bereits im Wahlkampf 2019, den Selenskyj mit einem Erdrutschsieg gewann, lieferten sich beide hitzige Wortgefechte. In beiden Lagern heißt es hinter vorgehaltener Hand, dass die Abneigung der beiden gegeneinander nahezu körperlich sei.
Vor wenigen Tagen war Anklage erhoben worden gegen Wolodymyr Kudrytskyi, den früheren Chef des größten staatlichen Energieversorgers. Dieser hatte Selenskyjs Umgang mit dem ukrainischen Energiesektor kritisiert. Die Anklage löste einen Sturm der Entrüstung aus. Vertreter der Zivilgesellschaft und Opposition sehen darin ein Beispiel für ein aggressives Vorgehen, mit der die ukrainische Führung versuche, politische Gegner, unabhängige Journalisten sowie Anti-Korruptions-Aktivisten einzuschüchtern.
Selenskyjs Büro lehnte gegenüber „Politico“ wiederholt Anfragen zu dem Fall und zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit ab. Kudrytskyi, der die Vorwürfe gegen ihn als „Unsinn“ bezeichnet, erklärte gegenüber „Politico“ in dieser Woche, er habe keinen Zweifel, dass er mit Billigung Selenskyjs von den Ermittlern ins Visier genommen werde.
Ihm ist der Zugriff auf seine Bankkonten verwehrt. Zudem sind ihm Auslandsreisen und die Teilnahme an Parlamentssitzungen untersagt – aufgrund von Sanktionen, die die Selenskyj-Administration nach einer Anklage wegen Landesverrats und Korruption gegen ihn verhängt hat. Diese Sanktionen könnten ihn daran hindern, bei einer Wahl anzutreten.
Poroschenko hingegen spricht von konstruierten Anklagen gegen den früheren Energiemanager. „Die Partner der Ukraine können – ohne ihre Unterstützung für das im Krieg befindliche Land zu verringern – den Behörden ein klares und unmissverständliches Signal senden, dass die zunehmende Nutzung von Sanktionen und gezielten Strafverfahren zur Unterdrückung unabhängiger Journalisten, von Anti-Korruptions-Einrichtungen und politischer Opposition nicht toleriert wird“, sagte Poroschenko.
„Allgemeine, lauwarme Aussagen über die Bedeutung fundamentaler Werte und die Unantastbarkeit der Menschenrechte“ seitens der EU und anderer Verbündeter reichten nicht mehr aus, fügte er hinzu. Dieser Ansatz sei bereits versucht worden – ohne Wirkung.
Die Regierung werde darauf „nur mit der altbekannten Behauptung reagieren, alle Fälle der Verfolgung seien Handlungen unabhängiger Strafverfolgungsbehörden und lägen außerhalb der Kontrolle und Verantwortung des Präsidenten“, so Poroschenko.
„Die zunehmende Anwendung von Sanktionen und gezielter Strafverfolgung durch die Regierung von Präsident Selenskyj erfordert eine starke und sichtbare Antwort unserer Verbündeten“, sagte er weiter. Kriegshilfen für die Ukraine dürften jedoch nicht als Druckmittel eingesetzt werden, denn „jede Maßnahme, die unsere Fähigkeit schwächt, der russischen Aggression zu widerstehen, wird die Lage nicht verbessern“.
Poroschenko warf Selenskyj zudem vor, die ukrainischen Strafverfolgungsorgane zu instrumentalisieren und sie in „Macht Durchsetzungsbehörden“ zu verwandeln. Als Beispiel nannte er die staatliche Ermittlungsbehörde, das „als Instrument zur Vollstreckung politischer Aufträge gegen Gegner fungiert“, sagte er.
Der am Dienstag in Brüssel vorgelegte Bericht der Kommission dürfte weder Poroschenko noch die Bürgerrechtsbewegungen in der Ukraine zufriedenstellen. Diese kritisieren, Brüssel gehe angesichts der – aus ihrer Sicht – drohenden demokratischen Rückschritte zu zaghaft vor.
Der Bericht zeichnete ein insgesamt positives Bild der Ukraine mit Blick auf die Fortschritte auf dem Weg in die EU, und lobte das „bemerkenswerte Engagement“ des Landes für seinen Beitritt. Zwar hob die Kommission Risiken eines ukrainischen Demokratiedefizits hervor, sie erwähnte jedoch nicht die in der Ukraine geäußerten Beschwerden über die strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner Selenskyjs. Zudem hieß es, die Regierung respektiere die Grundrechte weiterhin und engagiere sich für deren Schutz.
Allerdings forderte der Bericht eine rasche Umkehr negativer Trends im Kampf gegen Korruption sowie eine Beschleunigung rechtsstaatlicher Reformen. „Jüngste negative Entwicklungen, darunter wachsender Druck auf die Anti-Korruptions-Behörden und die Zivilgesellschaft, müssen entschlossen rückgängig gemacht werden“, erklärte die Kommission – eine Anspielung auf den Versuch der ukrainischen Regierung im Juli, zwei Anti-Korruptions-Behörden ihre Unabhängigkeit zu entziehen.
Der Protest der Zivilgesellschaft und regierungskritische Demonstrationen – die ersten seit dem Beginn der umfassenden russischen Invasion 2022 – zwangen die Regierung, zurückzurudern und die Unabhängigkeit des Nationalen Anti Korruptionsbüros sowie der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung wiederherzustellen.
„Argumente für Russlands Propaganda“
Selenskyjs politische Rivalen argumentieren, dass gezielte Strafverfahren sowie die Behinderung der Anti-Korruptions-Behörden bei Ermittlungen gegen Vertraute des Präsidenten in den vergangenen Monaten an Tempo und Intensität gewonnen hätten – vor dem Hintergrund zunehmender Spekulationen über mögliche Wahlen im nächsten Jahr.
Petro Poroschenko äußerte die Befürchtung, die demokratischen Rückschritte lieferten jenen in Europa und den USA Munition, die die Unterstützung für die Ukraine im Kampf gegen russischen Revanchismus zurückfahren wollten.
„Wenn Kritiker ins Visier genommen und Anti-Korruptions-Aktivisten angegriffen werden, liefert das jenen im Ausland – insbesondere der russischen Propaganda – Argumente, die Unterstützung für die Ukraine infrage zu stellen. Und es demoralisiert die Ukrainer selbst“, warnte Poroschenko.
Dieser Text erschien zuerst in „Politico“, mit dem WELT im Axel Springer Global Reporters Network verbunden ist. Übersetzt und redaktionell bearbeitet von Klaus Geiger
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