Einem massiv israelfeindlichen Beschluss des Bundeskongresses der Linksjugend am vergangenen Wochenende gingen laut Teilnehmern Bedrohungen von kritischen Delegierten voraus. Dies geht aus einer Nachricht von zehn Mitgliedern der Thüringer Linksjugend-Delegation an Parteifreunde hervor, die WELT vorliegt.
WELT hatte bereits am Montag berichtet, dass Kritiker unter Druck gesetzt wurden, dem Antrag des Berliner Landesverbands mit dem Titel „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“ zuzustimmen. Der Antrag, in dem ein „kolonialer und rassistischer Charakter des israelischen Staatsprojekts (...) von seinen Anfängen bis heute“ behauptet wird und in dem es heißt, die „Befreiung Palästinas“ müsse „als Teil einer breiteren demokratischen und sozialistischen Revolution betrachtet werden, die den Imperialismus und Kapitalismus aus der Region herauswirft“, wurde mit knapp 70 Prozent angenommen.
„Wir sind schockiert von den Geschehnissen und dem unsolidarischen Umgang“, heißt es in der Nachricht der Thüringer Linksjugend-Aktivisten, die während des laufenden Bundeskongresses verschickt wurde. Von anderen Verbandsmitgliedern sei man „offenem Hass“ ausgesetzt gewesen. Die Delegation habe eine Nachricht erreicht, in der es sinngemäß heiße: „Thüringen nicht schlafen lassen, wir wissen, wo ihre Zimmer sind.“
„Dieser Bundeskongress zeigt einen neuen Tiefpunkt in der Verbandskultur auf und bedeutet für uns das vorläufige Scheitern eines gemeinsamen und pluralen Verbandes, wie wir ihn kennen und schätzen“, heißt es in der Nachricht weiter. „Einige Menschen sind bereits abgereist, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen.“
Die Thüringer Delegierten hatten zu dem Berliner Antrag, in dem eine „Vernichtung des palästinensischen Volkes durch den israelischen Staat“ behauptet wird sowie die Terrormiliz Hamas und Antisemitismus nicht erwähnt werden, einen Änderungsantrag eingereicht. Dieser liegt WELT vor. Darin werden ebenfalls schwere Vorwürfe gegen Israel erhoben. „Der von Israel geführte Krieg im Gazastreifen hat sich in seinem Verlauf schon längst zu einem Völkermord entwickelt“, heißt es darin.
Zudem wird aber auch Solidarität mit „allen zivilen Opfern“ gefordert – „mit den Palästinenser:innen, die unter Bomben, Hunger und Vertreibung leiden, ebenso wie den israelischen Opfern des 7. Oktobers und den Geiseln, die zwei Jahre unter menschenverachtenden Bedingungen verbringen mussten“. Erwähnt wird zudem der „Kampf gegen Antisemitismus“, der „untrennbar verbunden mit unserem Kampf gegen Unterdrückung, Rassismus und Apartheid“ sei.
„Immer wieder angepöbelt und auf unangenehme Weise konfrontiert“
In der Nachricht heißt es nun, dass auf den Änderungsantrag, der als Kompromissvorschlag eingereicht worden sei, eine „extrem harte und emotionale Gegenrede“ gefolgt sei – „mit dem Totschlagargument, dass wir nicht selbst Migras wären und deshalb keine Ahnung hätten (sinngemäß: ‚Wer dem konkreten Berliner Antrag nicht zustimmt oder ihn verändern will, missachtet migrantische Perspektiven‘)“. Es sei nicht mehr um Argumente gegangen, „sondern nur noch um ein moralisches Gefühl der Überlegenheit und pauschale Rassismusvorwürfe“. Der Änderungsantrag wurde mit knapp 65 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.
Die beschlossene Fassung des Antrags breche „mit sämtlichen unserer bisherigen Grundsätze für eine humanistische Perspektive auf den Konflikt im Nahen Osten“, beklagen die Thüringer Delegierten. „Von da an war der Bundeskongress so gespalten, wie wir es in den letzten Jahren noch nie erlebt haben. Zwischen allen Blöcken und Lagern war danach keine Debatte und Kompromissfindung mehr möglich.“
Die Thüringer Gruppe sei auf dem Bundeskongress „zunehmend als Feindbild abgestempelt und ausgegrenzt“ worden, heißt es in der Nachricht weiter. „Im weiteren Verlauf des Abends wurden immer wieder unsere Genoss:innen von Mitgliedern anderer Delegationen angepöbelt und auf unangenehme Weise konfrontiert. Der Höhepunkt stellte die anfangs erwähnte Nachricht mit konkreten Drohungen gegen uns dar, die uns bis jetzt fassungslos zurücklässt. Wir wissen nicht, wie weiter.“ Mehrere Personen hätten sich in der Folge entschieden, ihre Kandidatur für den Bundesvorstand zurückzuziehen.
Der Parteivorstand der Linkspartei wird nach WELT-Informationen am Mittwoch zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um über den Beschluss der Linksjugend und die Vorkommnisse beim Bundeskongress zu beraten. Am Montag hatte sich die stellvertretende Parteichefin Sabine Ritter von dem Beschluss distanziert. „Die Position der Linken ist eine andere, und wir halten die der Linksjugend auch für falsch“, sagte sie WELT. „Für die Partei Die Linke gibt es Frieden nur, wenn alle Frieden finden. Die Perspektive der Opfer vom 7. Oktober muss dabei immer mitgedacht werden.“
Der geschäftsführende Landesvorstand der Thüringer Linkspartei erklärte am Dienstag: „Der Beschluss vernachlässigt die komplexe historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel und trägt nicht zu einer solidarischen und friedensorientierten Debatte über den Nahostkonflikt bei.“ Antisemitismus und die Relativierung antisemitischer Positionen widersprächen den Grundwerten der Linken.
Die Thüringer Linke-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss hatte zuvor bereits von einem „zutiefst antisemitischen Antrag“ gesprochen. „Die Linksjugend Solid reproduziert mit diesem Antrag antisemitische Lügen und stellt sich faktisch auf die Seite derer, die die Vernichtung judischen Lebens fordern“, postete sie auf Instagram.
Bereits am Samstag lag WELT zudem eine Stellungnahme der früheren Linksjugend-Bundessprecherin July Kölbel vor. „Ich empfinde diese Entscheidung als fatal und rückschrittlich“, heißt es darin. „Viele meiner Genoss:innen und ich distanzieren uns von der Betitelung Israels als Staatsprojekt und lehnen konsequent die Legitimierung der Forderungen der Hamas ab. Jedoch sind wir, diejenigen die sich seit vielen Jahren gegen Antisemitismus einsetzen, klar in der Minderheit.“ Der Gründungskreis der Bundesarbeitsgemeinschaft Shalom innerhalb der Linkspartei sprach von einem „antisemitischen Beschluss“, der „mit autoritären Methoden durchgesetzt“ worden sei.
Die Jüdische Studierendenunion Deutschland übte ebenfalls deutliche Kritik. Präsident Ron Dekel sagte: „Die Linksjugend Solid zeigt erneut, dass sie kein sicherer Raum für jüdische Studierende ist und ein massives Antisemitismusproblem hat, das sie weder erkennt noch aufarbeitet, sondern gekonnt wegdefiniert.“
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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