Auf den ersten Blick gleichen die Bilder einander: Von Häusern in einst belebten Straßen stehen nur noch rohe Mauern; in vormalige Wohnungen schaut man wie in offene, mehr oder minder dunkle Höhlen; auf den Straßen liegen mitunter meterhoch Schutt und Trümmer. Syriens Hauptstadt Damaskus Anfang November 2025 erinnert erschreckend an deutsche Städte bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Das sieht offenbar auch Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) so. In einer Sitzung der Unionsfraktion am Dienstag bekräftigte Wadephul seine Zweifel daran, dass kurzfristig viele Flüchtlinge Deutschland verlassen und in ihr Heimatland zurückkehren könnten. Diese Positionierung hatte zuvor zu erheblichem Ärger bei CDU und CSU geführt. Die Abschiebung von Syrern nach dem Ende des Bürgerkrieges ist ein zentrales Anliegen der Union – der Fokus liegt auf Straftätern und Arbeitslosen. Wie WELT und „Politico“ aus Teilnehmerkreisen erfuhren, sagte Wadephul in der Fraktionssitzung: „Syrien sieht schlimmer aus als Deutschland 1945.“
Warum löst er mit einer Gleichsetzung der Situation Deutschlands 1945 und Syriens 2025 heftige Störgefühle aus, etwa in sozialen Medien? Aus diesen drei Gründen:
Erstens ist da Wadephuls inzwischen bekannte Schwäche in Zeitgeschichte, die er zuletzt in einem Interview mit der Istanbuler Zeitung „Hürriyet“ vorgeführt hat. Darin attestierte er, türkische Gastarbeiter hätten „ganz entscheidend“ das Wirtschaftswunder möglich gemacht: „Sie haben das moderne Industrieland Deutschland mit aufgebaut.“ Eine abstrus ahistorische Behauptung – die an eine andere verbale Entgleisung des Außenministers erinnert, als Wadephul von Deutschlands „Zwangssolidarität“ mit Israel sprach.
Zweitens besteht gegenwärtig in Europa und natürlich auch beim Auswärtigen Amt, Wadephuls Behörde, trotz der Erhebung von Lagebildern kein vollständiger Überblick dazu, inwieweit die Zerstörungen in Syrien wirklich flächendeckend sind. Zum Vergleich: In Deutschland wurden durch Bombenangriffe und Kampfhandlungen am Boden mehr als 900 große und kleine Städte zerbombt oder zerschossen, doch weite Teile der Vorstädte und kleineren Ortschaften auf dem Land überstanden den Krieg weitgehend unbeschadet.
Die allerdings recht pauschal und nach wechselnden Kriterien erhobenen, deshalb nur begrenzt zuverlässigen Statistiken weisen in allen vier Besatzungszonen Deutschlands 1945 zusammen rund fünf Millionen durch Kriegseinwirkungen „unbenutzbare“ Wohnungen aus, durch deren teilweise oder vollständige Zerstörung 13 bis 15 Millionen Menschen ohne festes Dach über dem Kopf waren. Hinzu kamen Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den verlorenen deutschen Ostgebieten, sodass auf dem Territorium der beiden späteren deutschen Staaten rund 20 bis 23 Millionen Menschen in Notunterkünften leben mussten: ein knappes bis ein gutes Drittel der rund 60 Millionen Einwohner.
Für die Ende April 1945 besonders umkämpfte Reichshauptstadt Berlin sind vergleichsweise genaue Zahlen überliefert: Von den 1939 gemeldeten 1.562.641 Wohnungen innerhalb der Stadtgrenzen waren im Sommer knapp 600.000 total zerstört. Rund 200.000 weitere Wohnungen galten als schwer beschädigt, hatten also größere Löcher in den Fassaden. 380.000 waren leicht beschädigt: Sie hatten also zum Beispiel keine Fensterscheiben mehr, sondern Holzverschläge, konnten aber genutzt werden. 370.000 erschienen als voll wohntauglich in den Statistiken des Magistrats.
Knapp 50 Prozent der Vorkriegsbausubstanz Berlins waren also trotz der massiven Luftangriffe und der in manchen Vierteln äußerst heftigen Straßenkämpfe eingeschränkt oder sogar fast uneingeschränkt bewohnbar. Das ist eine ziemlich treffende Schätzung, denn heute weist die Landesstatistik in Berlin etwa 802.000 Wohnungen aus, die bis 1948 gebaut wurden – wobei es 1945 bis 1948 keinen nennenswerten Neubau gab, sodass die Differenz von rund 50.000 Wohnungen in Altbauten also auf die eben doch mögliche Sanierung schwer beschädigter Wohnungen zurückging.
Zerstörung verbietet Rückkehr? Falsch!
Der dritte Grund für Störgefühle, die Wadephuls Aussage verursacht, liegt in dem Schluss, den er aus seinem Ortstermin in Damaskus zieht: Das unbestreitbare Ausmaß der Zerstörungen bedeute, dass man Syrer nicht in ihre Heimat abschieben dürfe. Richtig ist im Gegenteil, dass solche Rückführungen notwendig und angemessen sind – begleitet durch Aufbauhilfen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg West-Deutschland bekommen hat.
Wieder hilft der historische Vergleich mit 1945, sachgerechte Maßstäbe zu entwickeln. Nach Kriegsende befanden sich in Großbritannien etwa 400.000 deutsche Kriegsgefangene, in den USA etwa 370.000. Im Gegensatz zu weiteren knapp sieben Millionen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die in teilweise riesigen Sammellagern auf deutschem Boden eingesperrt waren, waren sie bereits 1940 bis 1944 in westalliierte Kriegsgefangenschaft geraten. Noch einmal 3,2 bis 3,6 Millionen Mann befanden sich in sowjetischer Hand und mussten dort oft schwere Zwangsarbeit leisten – in abgeschwächter Form gab es Zwangsarbeit für Deutsche auch in Jugoslawien, Frankreich, Dänemark und einigen anderen ehemals vom Dritten Reich besetzten Ländern.
Die allermeisten der etwa 760.000 jenseits des Ärmelkanals oder gar des Atlantiks lebenden deutschen Männer (Frauen waren fast gar nicht unter ihnen) wollten 1945/46 nichts dringender, als in die Heimat zurückzukehren – auch wenn Deutschland zu großen Teilen zerstört war. Dabei lebten sie zwar nicht komfortabel, aber unter besseren Bedingungen, als sie daheim zu erwarten hatten.
In den USA wurde ab Herbst 1945 sogar Druck auf deutsche Kriegsgefangene ausgeübt, schnell zurückzukehren. Denn die oft einfachen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, die sie ausgefüllt hatten, wurden nun für die Millionen heimkehrenden US-Soldaten benötigt. So blieben nur wenige bereits gut integrierte Deutsche in Amerika und setzten ihr Leben hier fort.
In Großbritannien herrschte dagegen kurz nach dem Krieg zeitweise Arbeitskräftemangel, weshalb nach neueren Forschungen rund 15.000 deutsche Kriegsgefangene dort blieben oder sogar aus Lagern in Deutschland ins ehemalige Feindland auswanderten. Hinzukamen etwa 30.000 deutsche Frauen, die als Beschäftigte angeworben wurden oder als Freundinnen und Ehefrauen von Besatzungssoldaten mit ins Vereinigte Königreich kamen.
Die Rückkehr von Hunderttausenden Menschen aus vergleichsweise komfortablen Lebensverhältnissen in westlichen Staaten ins stark zerstörte Deutschland war ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung der späteren Bundesrepublik. Hinzu kamen noch die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten und – nach dem spürbaren Beginn der deutschen Spaltung 1946 – die Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone. Ohne sie alle wären das Wirtschaftswunder und damit der Aufstieg der Bundesrepublik unmöglich gewesen. Und das, obwohl die Zerstörungen auch westdeutscher Städte im Sommer 1945 schlicht abschreckend waren – auf Fotos, erst recht aber in der Realität.
Ähnlich wird es auch mit Syrien sein: Die meisten Menschen, die vor dem Bürgerkrieg geflüchtet sind, müssen zurückkehren, wenn ihre Heimat eine bessere Zukunft haben soll. Das ist die eigentliche Lehre aus Johann Wadephuls Vergleich.
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Schon während seines Studiums Anfang der 1990er-Jahre hat er sich als Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin intensiv mit der unmittelbaren Nachkriegszeit befasst.
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