Vom massenhaften Diebstahl über tragische Verwahrlosung bis hin zu Gewalt: Immer wieder geraten verhaltensauffällige Kinder, die noch als strafunmündig gelten, in die Schlagzeilen.

Zugleich gibt es langjährige Fälle, die immer wieder in der Kinderpsychiatrie auftauchen und anschließend wieder in den Einrichtungen der Jugendhilfe landen. Lösungen für delinquente Minderjährige zu finden, ist schwierig, gleiches gilt für psychisch kranke Kinder.

Im Kern geht es um die Frage, wie man mit Kindern und Jugendlichen umgeht, die kein sicheres Zuhause haben und immer wieder in Nothilfeeinrichtungen landen. Und hier gehen die Meinungen bei Sicherheitsbehörden, Kinderpsychiatern und Jugendhilfe auseinander.

Während die Jugendhilfe bundesweit eher den Ansatz der Freiwilligkeit vertritt und Minderjährige in offenen Wohnkonzepten unterbringen will, verweist die P0lizei mit der Forderung nach geschlossenen Einrichtungen auf den Schutz der Öffentlichkeit.

Dabei sind die Grenzen in der Debatte fließend, da oft nicht unterschieden wird zwischen jenen, die psychiatrische Hilfe brauchen, und kriminellen Jugendlichen oder Straftätern.

Psychisch kranke Kinder will man in Hamburg nun in dem Heim „Casa Luna“ unterbringen, dessen Bau vor einigen Monaten begonnen hat. Noch ist der Bau nicht fertiggestellt, schon regt sich lauter Protest. Dieser entzündet sich an der teils geschlossenen Unterbringungsmöglichkeit. Insgesamt 16 Neun- bis 13-Jährige sollen in „Casa Luna“ Platz finden, bis zu vier von ihnen können in einer sogenannten „Clearing“-Gruppe untergebracht werden. Je nach individuellem Fall und Beschluss dürfen sie dann das Gelände im Hamburger Stadtteil Groß-Borstel und den 21-Millionen-Euro Bau mit angrenzenden Grünflächen nicht verlassen – aber nur dann, wenn ein so genannter Unterbringungsbeschluss vorliegt.

Die Gegner des Projekts, die schon seit vielen Jahren die Planung kritisieren, würden gern verhindern, dass hier im März 2027 die ersten Kinder einziehen, befürchten serienmäßig Freiheitsentzug und Kindeswohlgefährdung. Den Sicherheitskräften wiederum geht die Ausrichtung von „Casa Luna“ nicht weit genug.

Ob ein Kind mit Schwierigkeiten in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Psychiatrie unterkommt, darüber entscheiden die Gerichte im Einzelfall. In Hamburg gibt es jedoch, anders als in vielen anderen Bundesländern, derzeit keine Einrichtungen für eine geschlossene Unterbringung mit Therapieangeboten. Bundesweit existieren 50 geschlossene oder teilgeschlossene Einrichtungen für Minderjährige der Jugendhilfe, in denen teilweise auch kriminelle oder gewalttätige Kinder untergebracht wurden. Hinzu kommen täglich Einweisungen in die geschlossenen psychiatrischen Kliniken.

In Hamburg ist der Druck, Lösungen zu finden, besonders groß, der Kinder- und Jugendnotdienst massiv überlastet. Die bestehenden Angebote machen immer wieder Negativ-Schlagzeilen, allen voran die Unterkunft in der Feuerbergstraße des Dienstes. Eigentlich sollen die Minderjährigen in dem Haus im Stadtteil Alsterdorf nur kurzfristig unterkommen, doch manche bleiben länger als ein Jahr, zum Teil auch zwei Jahre. Mindestens einmal pro Tag muss im Durchschnitt die Polizei in die Feuerbergstraße kommen, es gibt Übergriffe, Angriffe auf Mitarbeiter.

„Klau-Kind“ und „Systemsprenger“

Die Hamburger Gewerkschaft der Polizei fordert regelmäßig geschlossene Heime für diese Klientel und hofft nun darauf, dass diese auch irgendwann in „Casa Luna“ unterkommen könnten. Damit, so die Hoffnung, gäbe es endlich Lösungen für Kinder wie den elfjährigen Marokkaner, der im vergangenen Jahr als „Klau-Kind“ und „Systemsprenger“ durch die Medien ging. Mehr als 200 Delikte beging der unbegleitete Flüchtling binnen eines Jahres, tauchte immer wieder in der Feuerbergstraße auf, entkam letztlich den Behörden und setzte sich in die Schweiz ab.

Doch dass in „Casa Luna“ straffällige und kriminelle Minderjährige unterkommen, wie es in geschlossenen Heimen in Bayern und Brandenburg praktiziert wird, sei ausgeschlossen, stellt Projektleiter Peer Kaeding klar. Ziel der geschlossenen Gruppe in „Casa Luna“ sei es keinesfalls, kriminelle oder delinquente Jugendliche unterzubringen: „Wir wollen die Kinder erreichen, die noch erreichbar sind, sie benötigen ein ganz anderes Angebot als diese Klientel“, sagt Kaeding, der 20 Jahre als Schulpsychologe gearbeitet hat.

Das Angebot der „Clearing“-Gruppe in „Casa Luna“ mit vier Plätzen richte sich an Kinder unterhalb der Strafmündigkeitsgrenze, die jahrelang nicht in der Schule waren, vernachlässigt sind, keine Aussicht auf einen normalen Alltag haben, in der Psychiatrie oder in einer Noteinrichtung waren und psychiatrische Hilfe benötigen. In „Casa Luna“ will man sie vor dem Abrutschen in ein Leben in Kriminalität und Obdachlosigkeit bewahren. Sie sollen Unterricht in Kleingruppen, Psychotherapie und Bewegungsangebote bekommen. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, ein Bad, die Räume sind mit Blick auf einen begrünten Innenhof ausgerichtet.

Die Kinder sollen die Chance bekommen, sie im ersten Schritt überhaupt wieder schulfähig zu machen, wie Kaeding erklärt. Dafür bleiben etwa zwei Jahre Zeit. Danach besteht die Möglichkeit, in eine der zwei vorgesehenen offenen Gruppen zu wechseln, eine Rückkehr ins Elternhaus oder ein Umzug in eine Wohngruppe. Voraussetzungen, um hier zu leben, sind gemeinsame Beschlüsse von Sorgeberechtigten und Jugendamt, auch die wenigen geschlossen untergebrachten Kinder, die hier leben, wurden einbezogen.

In den offenen Gruppen gibt es zwölf Plätze für „Systemsprenger“, Kinder aus schwer belasteten Familien, die kaum Grenzen und Regeln akzeptieren – ein Teil der Klientel, die immer wieder in den Krisendiensten der Jugendhilfe auftaucht.

Was für die Befürworter ein Weg zum Erfolg ist, sehen Kritiker als Gefahr. Sie stören sich vor allem an der „Clearing-Gruppe“. Die Kinder würden „eingeschlossen“, was ihr Wohl gefährde, meint das „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ (AGU) um die Hochschulprofessoren für Sozialpädagogik Tilman Lutz und Michael Lindenberg: „Eine Einsperrung wird regelhaft zur Herrin der Pädagogik und der guten Absichten“, warnt Lutz.

Er befürchtet, dass die Teilgeschlossenheit auch auf die offenen Teile der Einrichtung „ausstrahlt“, dass die Freiheit und das Wohl der anderen Kinder ebenfalls eingeschränkt werden könnten. „Das Verlegen und Abschieben zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie muss aus unserer Sicht anders beantwortet werden“, sagt Lutz. Die Kinder würden von Schule, Freunden und sozialer Umgebung getrennt und sollten dann nach zwei Jahren zurück in ihr altes Umfeld. Das könne nicht funktionieren. Besser wäre einer Broschüre des Verbandes zufolge, die Kinder mit Therapie- und Wohnplätzen zu versorgen, gegebenenfalls mit der Familie. Und für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Psychiatrie solle eine gemeinsame Arbeitsstelle geschaffen werden.

Negativ sehen das Vorhaben auch frühere Bewohner geschlossener Heime. Im September 2023 hatten ehemalige Bewohner der Haasenburg-Heime protestiert und in einer Performance Ärzte dargestellt, die mit Spritzen Kinder betäubten. „Geschlossene Unterbringung ist ein Grundrechtseingriff. Sie schädigt die Kinder und ist nicht zu rechtfertigen“, sagte auch der frühere Haasenburg-Bewohner Renzo Martinez im Gespräch mit der „taz“. In den 2003 geschlossenen Heimen habe psychische und körperliche Gewalt auf der Tagesordnung gestanden.

Projektleiter Kaeding widerspricht den Kritikern, hält einen Vergleich mit den Haasenburg-Heimen für unangemessen: „Ich verwehre mich gegen eine Gleichsetzung der offenen, multiprofessionellen, pädagogisch sinnvollen, baulich kindgerechten, alle bekannten Mittel ausschöpfende und im Sinne des Kindeswohl agierende Einrichtung mit den kasernenähnlichen Haasenburg-Heimen“, sagte Kaeding.

Auch aus anderen Gründen sei die Kritik fehl am Platz. Die „Clearing-Gruppe“ in „Casa Luna“ sei grundsätzlich offen angelegt, es bedürfe eines besonderen Beschlusses, um die Kinder dort geschlossen unterzubringen. Mit „Casa Luna“ werde in Hamburg endlich die dringend benötigte Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie geschlossen: „Wir reden hier von schwer auffälligen Kindern, bei denen es nicht ausreicht, ihnen irgendwann mal in einer Wohngruppe ein Dach über den Kopf zu bieten.“

Polizeigewerkschaft will weitgehendere Lösungen

Doch was passiert mit den Kindern und Jugendlichen, welche durch Kriminalität auffällig werden oder straffällig geworden sind und dadurch andere in Gefahr bringen? Dafür gibt es in Hamburg keine Lösung, genauso, wie es bundesweit an echten Konzepten hapere, wie der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt gegenüber WELT beklagt: „Es gehört zur traurigen Lebenswirklichkeit unserer Zeit, dass es manchmal nicht gelingt, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig mit geeigneten pädagogischen oder therapeutischen Konzepten gegenzusteuern.“

Wendt fordert flächendeckend eine ausreichende Zahl von geschlossenen Einrichtungen für Betreuung und Therapie von auffälligen Kindern und Jugendlichen. Dies sei angesichts der „Steigerungsraten von Gewaltkriminalität“ bei Jugendlichen dringend nötig, sagte Wendt. „Dies ist nötig, um einerseits junge Menschen intensiv zu betreuen und andererseits Gefahren abzuwehren, die von diesen Kindern und Jugendlichen ausgehen“, sagte Wendt. Da es sich um einen „schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte“ handle, müsse die Unterbringung unter strengen rechtsstaatlichen Voraussetzungen geschehen.

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