Der Krieg ist nach Berlin gekommen. Nicht in der Realität, aber als Übung der Bundeswehr. Mitten in der Nacht steigen Soldaten des Wachbataillons hinab in den Untergrund der Hauptstadt. Dort, wo am Morgen Pendler an der Station Jungfernheide auf die U-Bahn warten, proben sie heute den Ernstfall – Kampf im Tunnel, Rauch, Schüsse, Verletzte.
Das Wachbataillon ist jener Verband, der sonst beim Empfang von Staatsgästen Spalier steht und am roten Teppich salutiert. Jetzt kämpfen sie im Gleisbett. „Bollwerk Bärlin III“ heißt die Übung.
Oberstleutnant Maik Teichgräber steht ein paar Meter neben dem Zugang zum Bahnsteig. Er ist Kommandeur des Wachbataillons beim Verteidigungsministerium. „Wir üben hier, weil Berlin unser Einsatzraum ist“, sagt er. „Im Spannungs- und Verteidigungsfall schützen wir die Einrichtungen der Bundesregierung. Und die liegen nun einmal hier.“
Eine Woche lang trainieren rund 250 Soldaten an drei Orten: im stillgelegten Chemiewerk in Rüdersdorf, auf dem Polizeigelände „Fighting City“ in Ruhleben – und im U-Bahnhof Jungfernheide. Etwa 50 Fahrzeuge sind zusätzlich beteiligt. Jeder Soldat durchläuft jede Sequenz, von der Evakuierung über die Verwundetensicherung bis zur Bekämpfung von Saboteuren.
„Wir müssen letztlich vom scharfen Ende her denken“, sagt Teichgräber. „Es geht darum, einsatzbereit zu sein für das, was im schlimmsten Fall passieren könnte.“ Die Übung im Tunnel gilt als besonders realistisch: schlechte Sicht, enge Räume, wechselndes Licht. „Hier unten ist nichts simuliert. Das Gelände ist, wie es ist.“ Der Kommandeur spricht ruhig, während seine Soldaten im Hintergrund rufen und Kommandos geben. „Wir haben den Auftrag, einsatzbereit zu werden, und das gilt auch für das Wachbataillon.“
Dann beginnt der Einsatz im U-Bahn-Tunnel. Über den Treppenaufgang stürmen rund 30 Soldaten auf den Bahnsteig. Die Luft ist warm, auf dem Boden liegen leere Zigarettenpackungen, die bunten Kacheln aus den 70er-Jahren werfen das grelle Licht der Taschenlampen zurück. Die Soldaten springen ins Gleisbett und nähern sich der U-Bahn. Aus dem hintersten Zugabteil dringen laute Hilferufe. Rauch liegt in der Luft.
„Los, vorwärts!“, ruft der Gruppenführer. Die ersten Männer springen in den Zug, der Rest sichert den Bereich dahinter, während aus dem Zuginneren die ersten Schüsse fallen.
Nach dem Szenario wurden feindliche Kräfte im Zug gesichtet, eigene Soldaten wurden verwundet. Ziel ist es, die Waggons zu sichern, Gegner festzusetzen und Verletzte zu bergen. Während der Übung hallen Schüsse durch den Tunnel. Zwei verletzte Soldaten müssen von ihren Kameraden gestützt werden, zwei weitere Verletzte werden auf einer Trage abtransportiert.
„Die größte Schwierigkeit ist die Lage zu Beginn“, erklärt Hauptfeldwebel Marco K. im Anschluss. Er hat die Gruppe von knapp 30 Soldaten in dieser Nacht geführt. „Man weiß nicht, wo der Feind ist, wie viele es sind, ob es Sprengfallen gibt. Und wenn dann noch Verwundete dazukommen, wird es schnell komplex.“ Der 36-Jährige wirkt gestresst, während hinter ihm Sanitäter einen Soldaten versorgen, der mittlerweile auf dem Bahnsteig liegt. „Meine Kräfte haben sauber gearbeitet“, sagt er. „Wir konnten die Lage klären und die Verwundeten geordnet abtransportieren.“
Die sogenannte Quick Reaction Force, eine Eingreiftruppe, wird nachgezogen. Unter ihnen ist Hauptgefreiter Bastian G., 23 Jahre alt. „Wir wurden abgerufen von unserer eigentlichen Aufgabe, weil im U-Bahn-System ein Feuergefecht stattfand“, sagt er. „Unsere Aufgabe war es dann, den Zug zu stürmen und die Verletzten zu bergen.“ Der Soldat trägt eine kugelsichere Weste – rund 15 Kilo Gewicht. Mit dem restlichen Equipment schleppt er insgesamt knapp 30 Kilogramm zusätzliches Gewicht mit sich herum.
„Manchmal ist es hell, dann wieder komplett dunkel“, erzählt er. „Kommunikation ist schwierig. Man hört Schreie, Schüsse, aber man muss durchgehend konzentriert bleiben.“
Ein paar Meter weiter zieht eine kleine Schienenkarre mit Verletzten vorbei. Sanitäter bringen Verwundete in Richtung Ausgang, Hundeführer durchsuchen die Waggons derweil nach Sprengstoff. Über den Funk knattern Kommandos, der Tunnel füllt sich wieder mit Rauch.
Hinter dem letzten Abteil steht Hauptgefreiter Johannes S., 21. Seine Aufgabe war es heute, Verwundete zu bergen. „Ich war hinten, als das Feuergefecht losging“, erzählt er. „Als die ersten Verletzten gefunden wurden, wurde ich nach vorn geschickt, um sie herauszuholen.“ Angst, dass aus der Übung in Zukunft Realität werde, sagt er, habe er nicht. „Respekt auf jeden Fall. Aber dafür üben wir das, damit man im Ernstfall weiß, was zu tun ist.“
Nach rund drei Stunden ist die Übung beendet. Es ist vier Uhr morgens. Die Soldaten räumen den Tunnel, tragen Material und Verwundete hinaus. Schweiß steht vielen auf der Stirn. Auf dem Bahnsteig riecht es nach Schmauch, aus dem Zug steigt noch Dampf. Berlin schläft weiter, während die Bundeswehr unten probt, was im Kriegsfall ihr Auftrag wäre.
Oberstleutnant Teichgräber zeigt sich zufrieden mit seinen Soldaten. Das Wachbataillon, eigentlich vor allem im protokollarischen Dienst im Einsatz, richtet seine Ausbildung zunehmend auf die Landes- und Bündnisverteidigung aus. „Unser Minister hat es kriegsfähig genannt“, sagt er. „Wir haben wie alle anderen Streitkräfte den Auftrag, einsatzbereit zu werden.“ Auch deshalb übt seine Truppe mitten in der Hauptstadt und nicht nur auf Truppenübungsplätzen. „Auf dem Übungsplatz kann man vieles trainieren“, sagt er. „Aber das hier ist unser tatsächlicher Einsatzraum. Wenn wir den Ernstfall proben, dann dort, wo er stattfinden würde.“
Dass die Bundeswehr überhaupt wieder Szenarien für einen Verteidigungsfall übt, zeigt, wie stark sich die sicherheitspolitische Lage verändert hat. „Was 900 Kilometer östlich von uns passiert, ist Realität“, sagt Teichgräber. „Ob das irgendwann auf Deutschland zukommt, kann niemand sagen. Aber wir müssen vorbereitet sein.“ Seine Worte klingen nicht alarmistisch, eher sachlich. Doch sie beschreiben, was seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in der Truppe zu spüren ist: Die ruhigen Zeiten in der Bundeswehr sind vorbei. Sie übt wieder für den Krieg.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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