An dem Spielplatz, auf dem normalerweise Drogendealer ihren Umschlagplatz haben, bleibt Julian Ngcobo einen Moment lang stehen. Seit seiner Jugend lebt er in Johannesburgs Innenstadt. Er schaut zu, wie eine Mutter mit ihren beiden Kleinkindern zur Rutsche geht. Ein Polizeiwagen rollt vorbei, eine Straße weiter kehren Mitarbeiter der Stadt den Müll, der sich hier sonst meterhoch türmt. „Wenigstens ein paar Tage passiert hier etwas“, sagt Ngcobo, 23. Ein wenig Schminke auf einer gebeutelten Nachbarschaft. Er weiß, dass die Fassade in Hillbrow, dem berüchtigtsten Viertel der Innenstadt, bald wieder bröckeln wird.
Ab Montag, sobald Südafrikas Staatsgäste wieder verschwunden sind. Zwar fehlen US-Präsident Donald Trump und Chinas Präsident Xi Jinping beim G-20-Gipfel in Afrikas wichtigster Metropole, in der weit mehr Menschen leben, als die von den Behörden vermeldeten sechs Millionen. Doch zwölf Regierungschefs der führenden Volkswirtschaften sind angereist, darunter der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz. Johannesburg hat zumindest versucht, sich herauszuputzen. Vor einigen Monaten hatte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa dem ANC-Bürgermeister noch öffentlich damit gedroht, den Gipfel kurzfristig nach Kapstadt zu verlegen.
Der offizielle Werbeslogan der Stadt aus Zeiten der WM 2010 als „afrikanische Weltklassestadt“, der trotz zwischenzeitlichen Verbots durch die Werbeaufsichtsbehörde weiter verwendet wird, soll nicht absurder wirken als nötig. Also wurden auf den Zufahrtswegen zwischen den Delegationshotels im Norden und dem Veranstaltungszentrum Nasrec im Süden eilig Schlaglöcher gefüllt, im Volksmund „Joburg-Jacuzzis“ genannt. Jahrelang defekte Straßenlaternen wurden repariert, Blumenbeete gepflanzt, Straßenhändler vertrieben. Selbst die streikbereite Gewerkschaft der städtischen Angestellten, die mit einer Sabotage des Gipfels gedroht hatte, wurde durch vorgezogene Gehaltserhöhungen beruhigt.
So weit ging man in Hillbrow nicht – einem Ort, den weder Staatsgäste noch die meisten Südafrikaner besuchen. Die Deckkraft des notdürftig aufgetragenen Make-ups ist hier weit geringer. Alle paar Straßen findet man aufgerissene Fahrbahnen, Resultat hastiger Reparaturen an geplatzten Wasserrohren. Die Infrastruktur ist nicht nur hier, sondern selbst in Vierteln der Mittelschicht so marode, dass vielerorts wochenlang das Wasser ausfällt. Oder der Strom. Oft beides gleichzeitig.
Viele afrikanische Großstädte verzweifeln an den Herausforderungen rasanter Urbanisierung, des Bevölkerungswachstums und der Migration aus ärmeren Nachbarländern. Doch kaum eine Metropole verschwendet ihr enormes Budget von umgerechnet rund vier Milliarden Euro derart, kaum eine ist so sehr zum Synonym für Korruption und Kriminalität geworden wie Johannesburg. Und nirgends zeigt sich das dort so deutlich wie im Stadtteil Hillbrow und im benachbarten Berea.
Ngcobo ist hier aufgewachsen, hat fast sein ganzes Leben zwischen den bröckelnden Hochhäusern verbracht. Er möchte die Innenstadt nicht aufgeben. „Sie wird immer meine Heimat sein“, sagt er. Zusammen mit Freunden betreibt er die Organisation Dlala Nje, die rund 100 Kindern bei den Hausaufgaben hilft und sie von der Straße fernhält. Viele haben Eltern ohne gültige Papiere, die ihre Kinder nicht auf öffentliche Schulen schicken können. Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein – aber immerhin ein Tropfen.
Ngcobo bleibt an einer Ecke stehen, flankiert von zwei Häusern, in denen in den 1970er-Jahren noch wohlhabende weiße Familien lebten. In den 1980er-Jahren begannen sie zu verfallen. Hier hätten die Menschen als Erste gegen die Apartheid-Politik protestiert, erzählt Ngcobo. Die Regierung habe daraufhin ihre staatlichen Leistungen für die Gegend zurückgefahren und kaum noch Investitionen bewilligt. „Da begann der Verfall.“
Als mit Beginn der Demokratie der ANC Südafrikas Grenzen weit öffnete – viele afrikanische Staaten hatten den Freiheitskämpfern einst Exil gewährt –, beschleunigte sich der Niedergang. Hunderttausende kamen auf der Suche nach Arbeit und Wohnraum. Viele Hausbesitzer wurden von kriminellen Syndikaten gezwungen, ihre Gebäude aufzugeben. Schutz hatten sie nicht. Die Polizei zog sich mit den großen Unternehmen aus der Innenstadt zurück und konzentrierte sich auf das Finanzzentrum Sandton im Norden.
Ngcobo zeigt auf ein Hochhaus ohne Fassade. Dort lebten zwar Obdachlose, es sei aber nicht von Kriminellen besetzt, sagt er. Der italienische Eigentümer habe es vor einigen Jahren renovieren wollen. Doch die Stadt habe von ihm kommunale Abgaben für die Leerstandszeit verlangt – eine Summe, die er nicht zahlen konnte. Also steht es weiter leer.
Hunderte drängen sich auf engstem Raum
Vor einem Gebäude auf der anderen Straßenseite, dessen Dach mit Zeltplanen notdürftig abgedichtet ist, erzählt Ngcobo, es habe einst dem Anti-Apartheid-Aktivisten Joe Slovo gehört. Seit Jahrzehnten sei es nun besetzt. „Wer 500 Rand (25 Euro) im Monat zahlt, darf dort wohnen – ohne ein einziges Dokument vorzulegen.“ Hunderte drängen sich auf engstem Raum.
Ein Polizeiwagen hält kurz, dann fährt er wieder. Es gab hier Razzien, bei denen Diebesgut im großen Stil sichergestellt wurde. Etwa 200 solcher Gebäude gibt es noch in Johannesburg – weniger als früher, doch Räumungen gelingen oft nur mithilfe privater Sicherheitsfirmen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Polizisten auf den Gehaltslisten krimineller Netzwerke stehen.
Einige Straßen weiter wirkt alles plötzlich sauberer. Private Investoren haben ganze Blöcke übernommen und bieten dort sämtliche städtischen Leistungen selbst an – Sicherheit, Reinigung, Reparaturen. Unter 150 Euro Monatsmiete gibt es dort keine Wohnung. Viele Menschen aus der Umgebung können sich das nicht leisten, doch die Nachfrage ist so groß, dass sich mehrere solcher Firmen etabliert haben. „Das könnte funktionieren“, sagt Ngcobo.
Zu denen, die sich einen Rest Hoffnung für Johannesburg bewahren, gehört auch Helen Zille, 74, die sich ihren Ruf als Südafrikas „Eiserne Lady“ redlich erarbeitet hat. Sie war lange Vorsitzende der Democratic Alliance (DA), entriss dem ANC zunächst Kapstadt und später die Westkap-Provinz und führte ihre Partei landesweit auf über 20 Prozent. Sie gab den Vorsitz ab, blieb aber in den Führungsgremien und war zuletzt maßgeblich an den Koalitionsverhandlungen mit dem ANC beteiligt.
Eigentlich wollte Zille kürzertreten, mehr Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen. Doch nun sitzt sie nach einer Rede im altehrwürdigen „Cape Town Press Club“ in einem Konferenzraum und ist wieder im Wahlkampfmodus. Zille, die einst selbst in Berea lebte, tritt im kommenden Jahr bei den Wahlen zum Bürgermeisteramt von Johannesburg an. In Südafrika löste diese Ankündigung großes Aufsehen aus.
Seit Monaten durchleuchtet die einstige investigative Journalistin die Strukturen der Stadt, die dafür bekannt ist, dass Posten doppelt und dreifach mit Parteikadern besetzt werden. Gerade einmal ein Prozent des Haushalts fließt in Wartungsarbeiten – acht Prozent wären für eine Stadt dieser Größe üblich.
Eine Stadt muss in erster Linie funktionieren
Ihre Diagnose ist vernichtend. „Die Korruption in Südafrika ist das System“, sagt sie WELT. „In Kapstadt wird ein korrupter Beamter schnell aus dem Verkehr gezogen. In Johannesburg ist es andersherum: Dort fliegt derjenige raus, der Missstände aufdeckt.“ Das Grundproblem sei nicht individuelle Bestechlichkeit, sondern „Korruption in der Dimension von Syndikaten“, ein Geflecht aus Beamten, Politikern und kriminellen Netzwerken. „Es ist organisiert.“ Erstmals wehrt sie sich nicht dagegen, dass die Partei ihr Sicherheitspersonal zur Seite stellt.
Langfristig, sagt Zille, lasse sich die Stadt nur stabilisieren, wenn die „Basics“ wieder funktionierten: sauberes Wasser, zuverlässiger Strom, reparierte Straßen, sichere öffentliche Räume. „Mehr sollte im Moment niemand versprechen.“ Die Finanzverwaltung müsse dringend digitalisiert werden – aktuell sei sie so unmodern, dass Transparenz kaum möglich ist. „Oft gibt es nicht einmal Passwörter. Transaktionen sind bewusst nicht nachvollziehbar.“
Ob sie das Ruder herumreißen kann? „Das weiß ich nicht“, sagt Zille. „Aber ich werde es zumindest mit aller Kraft versuchen.“
Christian Putsch ist Afrika-Korrespondent. Er hat im Auftrag von WELT seit dem Jahr 2009 aus über 30 Ländern dieses geopolitisch zunehmend bedeutenden Kontinents berichtet.
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