Vor Kurzem bat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) seine Unions-Kameraden darum, sanfter mit Vizekanzler Lars Klingbeil umzugehen. Der SPD-Chef sei sehr „sensibel“, soll Merz über Klingbeil gesagt haben. Das waren neue Töne für den rhetorisch sonst eher robusten Sauerländer, der über Ausländer beim Zahnarzt, „kleine Paschas“ oder die Hässlichkeit Brasiliens schimpft. Aber die harte Schale von Merz, über Jahre durch lapidare Bonmots kultiviert, ist wohl nur eine Schale.
Denn Merz selbst ist einer der empfindlichsten Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Jedenfalls gemessen an seinem juristischen Vorgehen. WELT AM SONNTAG liegen Dokumente wie Strafanträge, Ermittlungsakten und Anwaltsschreiben vor, die belegen, dass Merz seit 2021 – da war er noch Oppositionsführer der Union – Hunderte Strafanträge wegen Beleidigungen gestellt haben muss.
„Sehr geehrte Damen und Herren, wir vertreten die rechtlichen Interessen von Friedrich Merz MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin (dienstliche Anschrift)“, schreibt die Kanzlei Brockmeier, Faulhaber, Rudolph aus Rheine zum Beispiel. Das Abgeordnetenbüro von Merz bestätigt die Vorgänge weitgehend. „Der Bundestagsabgeordnete des Hochsauerlandkreises, Friedrich Merz“, habe „in der letzten Legislaturperiode einige Beleidigungen gegen seine Person in den Sozialen Medien strafrechtlich verfolgen lassen“. „Schadensersatzzahlungen und Geldstrafen“ habe Merz „in voller Höhe für soziale Zwecke im Hochsauerlandkreis gespendet“, teilt ein Sprecher mit.
Hört man sich bei Parteifreunden von Merz um, war das Anlass lebhafter Diskussionen. „Nach der Hausdurchsuchung bei dem Typen, der Habeck einen ‚Schwachkopf‘ genannt hatte, fanden wir das nicht mehr vermittelbar, dass auch Merz so etwas macht“, sagt einer. Ein anderer findet: „Die Strafanträge von ihm werden uns sicher auf die Füße fallen.“
Unterschrieben sind die Anträge meist von Rechtsanwalt Alexander Brockmeier. Brockmeier ist FDP-Politiker. Zusammen mit Franziska Brandmann, die von 2021 bis 2025 Bundesvorsitzende der FDP-Jugendorganisation Julis war, gründete er die Firma So Done: eine Agentur, die kostenlos für ihre Mandanten das Internet nach möglichen Beleidigungen durchsucht, zur Anzeige bringt und zivilrechtliche Ansprüche geltend macht.
50 Prozent davon erhält So Done und finanziert so ihr Internetdurchsuchungsprojekt, das vorgibt, gegen Hass zu kämpfen, in Wahrheit aber gratis für die mächtigsten Menschen im Land, Regierungs- und Bundestagsmitglieder, gegen die Wut einfacher Leute vorgeht.
Mehrfach haben Menschen aus dem So-Done-Umfeld selbst die Grenzen der Rechtmäßigkeit überschritten. Für die Firma hatten unter anderem NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), der damalige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und die heutige Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) geworben. Wüst und Habeck wurden durch den Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel schließlich für ihre Werbung dort abgemahnt.
Mit der „Werbung für einzelne Marktteilnehmer“ verstießen sie in ihrer Funktion als Bundesminister und Ministerpräsident gegen die „Pflicht zur neutralen Amtsführung“ und somit gegen wettbewerbsrechtliche Vorschriften, argumentierte Steinhöfel – und gewann. Seitdem sind Bilder und Werbetexte der beiden auf der Homepage von So Done verschwunden.
2024 gewann die Firma den Gründungspreis NRW. Gestiftet wird dieser vom Land Nordrhein-Westfalen. Verschiedene Vertreter der Union berichten, Merz, aber auch andere Politiker wie Dorothee Bär (CSU) hätten zeitweise die Dienste von So Done in Anspruch genommen. Merz, so heißt es, solle den Dienst inzwischen nicht mehr nutzen.
„Das Problem ist die völlige Überreaktion der Justiz“
WELT AM SONNTAG liegen mehrere Dokumente vor, aus denen hervorgeht, dass Merz als Abgeordneter Strafanträge gegen Menschen stellte, die ihn unter anderem „kleinen Nazi“, „Arschloch“ oder „drecks Suffkopf“ nannten. Die einzelnen Fälle sind in einem Dokument der von Merz beauftragten Anwaltskanzlei sauber durchnummeriert – bis hoch zu Strafantrag 4999. Bei den Aussagen „kleiner Nazi“ und „drecks Suffkopf“ kam es den Unterlagen zufolge anschließend zu Hausdurchsuchungen bei den Beschuldigten. Die Hausdurchsuchung wegen „drecks Suffkopf“ wurde von einem Gericht für rechtswidrig erklärt.
Konstantin Grubwinkler ist der Rechtsanwalt des damals Beschuldigten im Fall „drecks Suffkopf“. Grubwinkler sagt: „Natürlich steht es jedem frei, einen Strafantrag zu stellen, auch Politikern wie Friedrich Merz. Das ist eine persönliche Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss und darf. Darum geht es hier aber nicht. Das Problem ist die völlige Überreaktion der Justiz.“ Wenn die Justiz Durchsuchungen wegen Beleidigungen für verhältnismäßig halte, so der Anwalt, „existiert das Prinzip der Verhältnismäßigkeit faktisch nicht mehr, und es herrscht rechtsstaatswidrige Willkür“.
Im Fall von „kleiner Nazi“ hat die Beschuldigte, eine ältere, körperbehinderte Frau im Rollstuhl, die Tat sofort nach Eintreffen der Polizei zugegeben. Trotzdem wurde ihr Mobiltelefon eingezogen, um Beweismittel zu sichern. Die Frau, die angibt, jüdische Wurzeln zu haben, und deswegen vor einem neuen Faschismus warne, den sie bei Merz sehe, lebt von staatlichen Leistungen. Man kann sie als arm bezeichnen. Sie wird von einem Pflegedienst betreut. Ihr Handy dient zur Kommunikation mit Ärzten, Pflegern und der Apotheke. Das Gerät einzuziehen kann man als unnötige Bestrafung ansehen, in ihrem Gesundheitszustand sogar als eine gefährliche.
WELT AM SONNTAG liegen auch Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Berlin vor, die im Falle mutmaßlicher Merz-Beleidigungen ermittelte. Einer dieser Fälle dreht sich um einen Tweet vom 28. September 2023 mit dem Text „Neuer Definitionsversuch: Arschlöcher sind Menschen, deren verbaler Output nicht von ihrem analen Output zu unterscheiden ist. #Merz #Merzbohren.“ Was für die Psychoanalyse Ausdruck der analen Phase ist, ist für die Staatsanwaltschaft Berlin eine extrem gefährliche Sache. Sie führt diesen Vorgang im Bereich politisch motivierter Kriminalität, Unterkategorie Extremismus.
Ermittelt wurde dieser Fall vom Bundeskriminalamt aufgrund einer Strafanzeige des Portals „Hessen gegen Hetze“, was wiederum ein dem hessischen Innenministerium unterstelltes Projekt ist. Merz hatte in diesem Fall nicht selbst Strafantrag gestellt. Das Bundeskriminalamt ermittelt für mächtige, aber empfindsame Politiker von sich aus. Anders als eine „normale“ Beleidigung nach Paragraf 185 Strafgesetzbuch, die nur auf Antrag des Geschädigten verfolgt werden kann, darf bei Paragraf 188 StGB („Gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung“) auch ohne das Zutun des Geschädigten ermittelt werden.
Besonders beunruhigend ist an jenem Fall ein Vermerk in der Akte durch eine Polizistin. Der Tweet stammt von September 2023, gemeldet wurde die mutmaßliche Straftat durch „Hessen gegen Hetze“ aber erst im Dezember 2024. Merz war da schon Kanzlerkandidat von CDU und CSU. Die Polizistin bittet darum, das über ein Jahr altes Äußerungsdelikt „priorisiert zu bearbeiten“, „um eine Präventionswirkung rechtzeitig vor der Bundestagswahl“ zu erzielen. Das kann man mindestens als übereifrig bezeichnen.
WELT AM SONNTAG sprach mit mehreren Anwälten von Beschuldigten, denen vorgeworfen wird, Merz beleidigt zu haben. Einer der Anwälte ist Jannik Rienhoff. Rienhoff sagt: „Ich vertrete beziehungsweise vertrat etwa zehn Personen mit insgesamt circa 30 Ermittlungsverfahren.“ Von diesen 30 Verfahren endete bisher ein einziges mit einem Strafbefehl. Zehn Verfahren wurden schon eingestellt. Der Rest ist noch offen. Rienhoff heißt Beleidigungen von Menschen nicht gut. Aber auch er hat staatstheoretische Bedenken: „Es sollte nicht die Aufgabe des BKA sein, das Internet nach möglichen Beleidigungen zu durchforsten, welche Politiker*innen nicht einmal mitbekommen.“
Am Ende erreichte WELT AM SONNTAG schließlich ein Dokument vom Februar 2025. Daraus ist zu entnehmen, dass Merz kurz vor der Bundestagswahl noch höchstpersönlich einen Strafantrag unterschrieb. Mit schwungvoller Füller-Schreibschrift. Ein Sprecher der Bundesregierung spricht von „mehr als 170 Kontaktaufnahmen von Polizei und Staatsanwaltschaften“ wegen mutmaßlicher Beleidigungen gegenüber dem Bundeskanzler. Merz habe „in keinem der Fälle“ Strafantrag gestellt, heißt es weiter. Er habe der Strafverfolgung aber auch nicht widersprochen.
Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Politiker. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Seine Romane „Toxic Man“ und „Gute Menschen“ sind im Piper-Verlag erschienen.
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