- Vom Schulabbruch zur Handwerksmeisterin und in den Bundestag
- Corona-Pandemie: Warum Fleischermeisterin Nora Seitz politisch wurde
- Über den strukturschwachen Osten und die Handwerker in der AfD
"Ich bin hinausgezogen in eine Parallelwelt", sagt Nora Seitz jetzt. Die 41-Jährige ist im Februar – ohne vorherige politische Laufbahn – für die CDU in den Bundestag eingezogen. Dort ist sie die einzige Handwerksmeisterin. Während sie in ihrer Fleischerei im Chemnitzer Arbeiterviertel Sonnenberg sitzt, erklärt Seitz: "Ich sage immer: Hier wird was fertig. In Berlin weiß ich das nicht."
An diesem Morgen Ende November hat Seitz angefangen, die Weihnachts-Salami zu produzieren. Auch wenn sie inzwischen nur noch selten dafür Zeit hat – und Wurst nur noch zum Entspannen macht – die Abläufe kennt sie seit mehr als zwei Jahrzehnten. Mit 17 stieg sie in den Traditionsbetrieb der Eltern und Großeltern ein und begann eine Ausbildung zur Fachverkäuferin. Der Grund: Das Gymnasium hatte sie nach der zehnten Klasse abgebrochen. "Mit einem Schulzeugnis, was ich heute keinem mehr zeigen möchte", sagt sie.
Vom Schulabbruch zur Handwerksmeisterin
Es sei ihre erste praktische Erfahrung mit dem Scheitern gewesen. Doch realisiert habe Seitz das zunächst nicht. "Ich war ein verdammt überhebliches und unreflektiertes Kind", sagt sie und senkt den Blick. Als die junge Frau nach dem ersten Tag aus der Berufsschule nach Hause kam und ihre Mitschüler teils mit den Händen gerechnet hätten, habe sie ihre Eltern gefragt: "Mit was für Primaten habt ihr mich in die Schule gesteckt?" Den verachtenden Ton dazu kann sie noch heute authentisch imitieren.
Dann wechselt die Stimme auf Ehrfurcht: "Ich habe mir so eine Schelle von meinem Vater gefangen." Das habe es sonst nie von ihm gegeben. Darin habe viel Frust auf die Tochter und ihre Haltung gesteckt. Die Fleischerei gibt es seit 1932 im Familienbetrieb. Im Imbissraum hängen goldene und diamantene Meisterbriefe der vorherigen drei Generationen. Heute sagt sie, die Ohrfeige habe es zu Recht gegeben.
Ich habe gelernt, zu verhandeln und Dinge auszuhalten. Weil die Jungs mich ständig herausgefordert haben.
Anschließend hat Seitz sowohl den Abschluss als Fachverkäuferin als auch den zum Fleischergesellen jeweils als Jahrgangsbeste geschafft. Bei letzterem war sie eine von zwei Frauen in der Berufsschulklasse. "Das hat den großen Vorteil gehabt: Ich habe gelernt, zu verhandeln und Dinge auszuhalten. Weil die Jungs mich ständig herausgefordert haben."
Politik und Handwerk: Was im Parlament fehlt
Jetzt ist sie CDU-Politikerin und in diesem Bundestag die einzige Handwerksmeisterin – neben nur fünf Männern mit Meistertitel. Insgesamt gibt es im Bundestag nur noch 40 Abgeordnete mit Bezug zum Handwerk, wie die "Deutsche Handwerks Zeitung" schreibt – das entspricht 6,35 Prozent.
Und zum Vergleich: Der Anteil der Handwerker in der arbeitenden Bevölkerung lag mit Auszubildenden im Jahr 2024 bei 12,3 Prozent. Und es sind Tischler, Kfz-Mechatroniker oder Anlagenmechaniker, deren kleine und mittlere Firmen fast ein Drittel aller Betriebe in Deutschland ausmachen.
"In Berlin fehlt diese Seite der Praktiker", sagt Seitz. Eigentlich wollte sie nicht in die Politik: "Doch mittlerweile haben wir es geschafft, den Kontrollrahmen so eng zu schnüren, dass Unternehmer praktisch keine Luft mehr kriegen und ihnen quasi die Hände hinter dem Stuhl gebunden sind."
Corona: Warum Nora Seitz politisch wurde
Während der Krise durch die Coronavirus-Pandemie wollte sie sich das erste Mal als Bundestagskandidatin für die Chemnitzer CDU aufstellen lassen. Neben den "vielen kleinen Nadelstichen" durch Bürokratie, Vorschriften und Verwaltung sei für die Betriebe damals noch mehr hinzugekommen.
Als etwa Fleischer im Lockdown schließen sollten, "haben wir herausgefunden, dass auf der Liste der kritischen Infrastruktur im Ernährungsbereich nur der Einzelhandel draufstand", sagt Seitz. Anschließend hätten der "Deutsche Fleischer-Verband" und sie als dessen Vizepräsidentin gekämpft, bis die Fleischereien als systemrelevant anerkannt wurden und weiter ihre Lebensmittel verkaufen durften. Von da an aber reichten für Seitz die Verbandsarbeit und das Ehrenamt offenbar nicht mehr aus.
Gesellschaftsjahr gegen Fachkräfte-Mangel?
Und was 2021 noch scheiterte, gelang 2025: Seitz zog über die Landesliste in den Bundestag ein. Der Landtag sei nie ihr Ziel gewesen. Die Themen, mit denen sie sich befasst, gehören aus ihrer Sicht in die Bundespolitik – und auch in die CDU müsse nach vielen Jahren wieder ein Gefühl reinkommen, was es bedeute, Handwerker zu sein. Da gebe es viele gravierende Probleme, die oft branchenübergreifend alle betreffen – etwa der Fachkräftemangel.
Eine Idee von Seitz zur Lösung: Sie will den Bundesfreiwilligendienst als Gesellschaftsjahr dafür in die Debatte bringen, sodass dieser angerechnet werden kann. Ähnliche Modelle gibt es bereits für den Pflegebereich und die Anrechnung als Pflichtpraktikum für das Medizinstudium. Für das Handwerk ist die Idee neu: Wenn junge Menschen nach der Schule etwa ein Jahr auf einem Bauernhof verbringen "und anschließend sagen: Ich kann mir die Lehre bis zum Schluss vorstellen. Dann fängt er oder sie nicht von vorne an, sondern sattelt auf", sagt Seitz.
Das würde auch die duale Ausbildung stärken, die – kleine Spitze gegen den Koalitionspartner – durch den stetig steigenden Mindestlohn ausgehöhlt würde. "Die jungen Menschen freuen sich über bald 15 Euro. Aber wenn sie aus der Schule rauskommen, sind sie nicht so gut, wie sie glauben", sagt sie und lacht über die Andeutung zu ihrer eigenen Jugend.
Der Osten und die Handwerker in der AfD
Handwerk müsse wieder mehr in den Fokus – gerade für den Osten, sagt Seitz. Denn der Osten sei aufgrund der Geschichte strukturschwächer. "Nach der Abwicklung durch die Treuhand haben viele Menschen noch mal bei null anfangen müssen." Und sie wolle gar nicht darüber nachdenken, was wäre, wenn ihr Großvater damals nicht die Fleischerei gehabt hätte.
Doch Themen kleinerer und mittlerer Unternehmen "werden gerade viel besser durch die AfD bedient", sagt Seitz. Vor kurzem habe sie das wieder in zwei intensiven Wochen im Bundestag erlebt. "Das bringen die automatisch mit, allein, weil von den Bundestagsabgeordneten mit beruflicher Ausbildung der überwiegende Teil bei der AfD ist." Was nicht bedeute, dass die auch mehr Ahnung hätten. So denke sie manchmal, wenn AfD-Chef und Malermeister Tino Chrupalla im Bundestag spreche: "Nichts sagen, nichts sagen!"
CDU und Handwerk: Helfen neue Strukturen?
Seitz sieht viele Probleme, viele sind bekannt. Für einige sucht sie nun seit mehreren Monaten als Politikerin nach Lösungen und ist in den Ausschüssen für Arbeit und Soziales sowie für Gesundheit aktiv. Zudem ist die Fleischerin aus Chemnitz erste Vorsitzende des neu gegründeten "Netzwerk Handwerk" in der CDU geworden. Darin haben sich verschiedene Abgeordnete und Vertreter aus Interessenverbänden zusammengefunden. Die Gruppe solle bewusst "außerhalb der Parteilinien denken".
Ich glaube, es braucht mal wieder eine Schelle, wie es sie von meinem Vater gab.
Für Seitz steht fest: "Wir leben nicht mehr in der Zeit von ständigem Wachstum." Das hätten aber noch nicht alle verstanden. "Ich glaube, es braucht mal wieder eine Schelle, wie es sie von meinem Vater gab", sagt sie. Anders ausgedrückt: "Der Kopf muss mal wieder geradegerückt werden."
In ihrer Ausbildung und unmittelbar nach dem Abbruch des Gymnasiums habe sie gelernt, dass Cosinus- und Sinusberechnung oder der Satz des Pythagoras meist unnötig seien, sagt Seitz. "Wenn du einen Dreisatz kannst, kommst du durchs Leben, zumindest zu 80 Prozent." Nun ist die Frage, ob sie mit ihren praktischen Erfahrungen auch in der "Parallelwelt" fertig wird.
MDR AKTUELL
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