Seit dem 1. Januar 2001 gilt in Deutschland das Recht auf gewaltfreie Erziehung. „Das Kind hat ein Recht auf Pflege und Erziehung unter Ausschluss von Gewalt, körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen“ – so steht es in Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Und tatsächlich hat diese gesetzliche Norm in der Gesellschaft offenbar zu einem gravierenden Wandel im Umgang mit körperlichen und emotionalen Strafen in der Erziehung geführt. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Befragung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm in Kooperation mit dem Kinderhilfswerk Unicef Deutschland mit 2530 Teilnehmern über 16 Jahren.
Insgesamt hat der Anteil der Menschen, die Gewalt als Erziehungsmittel gutheißen, einen neuen Tiefstand erreicht. Gaben in einer ähnlichen Befragung aus dem Jahr 2005 noch rund drei Viertel der Befragten an, einen „Klaps“ auf den Hintern als Erziehungsmethode für angebracht zu halten, sank dieser Anteil 2016 auf 44,7 Prozent, 2020 auf 42,7 Prozent und 2025 auf 30,9.
Ähnliches gilt für die Ohrfeige als Erziehungsmittel. Im Jahr 2005 gaben 53,7 Prozent der Befragten an, eine „leichte Ohrfeige“ als angebrachte Erziehungsmethode zu betrachten. Zwischen 2016 und 2020 lagen die Zahlen bei 17 beziehungsweise 17,6 Prozent. Bei der jüngsten Befragung hielten nur noch 14,5 Prozent eine solche Ohrfeige für angemessen. Die sprichwörtliche „Tracht Prügel“ halten nur noch 5,4 Prozent für angemessen. 66,8 Prozent lehnen körperliche Strafen generell ab.
Dabei ist die grundsätzliche Zustimmung zu sogenannten Körperstrafen bei Männern höher als bei Frauen. Letztere lehnen solche Strafen mit 70,3 Prozent Zustimmung generell häufiger ab als Männer (62,5 Prozent). Die Forscher verglichen auch Einstellungen nach Altersgruppen. So halten 42,9 Prozent der 61- bis 92-Jährigen einen „Klaps auf den Hintern“ für angebracht, aber nur 17,2 Prozent der 16- bis 30-Jährigen. Die älteste Altersgruppe lehnt zu 54,9 Prozent körperliche Bestrafungen in der Erziehung von Kindern ab, bei den Jüngsten sind es 80,1 Prozent. In der jetzigen oder künftigen Elterngeneration scheine die Zustimmung zu körperlichen Bestrafungen in der Kindererziehung zunehmend zu verschwinden, halten die Forscher fest.
Emotionale Strafen noch unbeliebter als körperliche
„Die gesetzliche Verankerung der gewaltfreien Erziehung im BGB war keine Symbolpolitik, sondern ein bedeutender Meilenstein – mit konkreten Auswirkungen auf die Einstellungen und das Handeln vieler Eltern“, sagt der Leiter der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut Jörg M. Fegert. Dennoch sei es unerlässlich, die Anstrengungen zum Schutz von Kindern vor Gewalt weiter zu intensivieren. Insbesondere psychische Gewalt und emotionale Bestrafung in der Erziehung erführen nach wie vor nicht die notwendige Aufmerksamkeit – trotz der nachgewiesen negativen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung.
Erstmals hatten die Ulmer Forscher sich daher auch mit dem Thema emotionale Strafen und Gewalt in der Kindererziehung befasst – also Maßnahmen wie Anschreien, Schuldzuweisungen und Bloßstellungen, verletzende oder beleidigende Aussagen, Drohungen, Essensentzug oder Einsperren im Zimmer. Interessant dabei: Mit 73 Prozent werden emotionale Strafen sogar noch deutlich häufiger abgelehnt als körperliche Strafen (66,8 Prozent).
Am häufigsten kommt demnach noch „Anschreien“ zum Einsatz. 16,1 Prozent halten diese Form der Strafe für angebracht. 9,2 Prozent greifen zum Mittel des Einsperrens. 8,6 Prozent finden es angebracht, im Konfliktfall die Kommunikation mit dem Kind zu verweigern. 5,5 Prozent erklären es für in Ordnung, das Kind von der Familie oder von Freunden zu isolieren.
Auch bei diesen Maßnahmen ist die Akzeptanz in der älteren Altersgruppe deutlich höher als bei den jüngsten Befragten. Hier könnten auch selbst erlebte Gewalterfahrungen im Kindes- und Jugendalter eine Rolle spielen, vermuten die Ulmer Forscher. Sie planen daher, sich in ihrem ausführlichen Ergebnisbericht noch vertiefter mit dem Thema psychische Gewalt und emotionalen Strafen auseinanderzusetzen. Hierbei soll auch auf selbst erlebte Erziehungsstrafen und die Weitergabe von Gewalt über Generationen hinweg eingegangen werden.
Unicef-Geschäftsführer Christian Schneider sagte: „Es ist eine dauerhafte gesellschaftliche Verantwortung, Kinder vor psychischer und physischer Gewalt zu bewahren. Diese Aufgabe hat auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.“ Ausruhen könne man sich daher trotz des grundsätzlich positiven Trends nicht, erklärte Kinderpsychiater Fegert. Wie die Befragung gezeigt habe, halte zumindest ein Teil der Bevölkerung körperliche und emotionale Strafen nach wie vor für angemessen. Hinzu komme, dass die Misshandlungsform der Vernachlässigung – also Gewalt durch Unterlassung – nach wie vor weitgehend unbeachtet bleibe, betonte Fegert. „Auch die Ächtung dieser Form der Gewalt muss endlich gesetzlich verankert werden.“
Sabine Menkens berichtet für WELT über familienpolitische Themen sowie die Berliner Politik.
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