Olaf Lies (SPD) ist seit Mai Ministerpräsident von Niedersachsen. In dieser Funktion ist er auch Mitglied des VW-Aufsichtsrats. Seit 2013 gehört er dem Landeskabinett an: Zunächst war er Wirtschafts-, dann Umwelt- und schließlich erneut Wirtschaftsminister. WELT: Herr Lies, Sie sind fast genauso lang – oder so kurz – im Amt wie Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Wer von Ihnen beiden hat die bessere Halbjahresbilanz?
Olaf Lies: Ich werde mich nicht mit dem Bundeskanzler vergleichen. Das fände ich vermessen. Aber wir stehen jetzt beide vor der Herausforderung, das Land voranzubringen – und erleben, dass nicht alles so schnell geht, wie wir es uns vorstellen. Insofern sind wir jetzt beide auf ein kluges Erwartungsmanagement angewiesen.
WELT: Sie selbst haben sich in den vergangenen Monaten sehr dafür eingesetzt, dass der Bund und am Ende auch die EU das bisher strikte Regelwerk für das Verbrenner-Aus im Jahr 2035 aufgeweicht hat. Wie wichtig ist diese Entscheidung für das „Autoland“ Niedersachsen?
Lies: Es ist eine sehr wichtige Entscheidung für das „Autoland Deutschland“ insgesamt – und für Niedersachsen mit seiner starken Zuliefer- und Herstellerstruktur ganz besonders. Wir haben deshalb vielleicht auch etwas früher verstanden, dass es nicht möglich sein wird, ab 2035 ausschließlich E-Automobile zu verkaufen. Der Elektromobilität gehört die Zukunft. Aber um in diesem Transformationsprozess zu bestehen, brauchen unserer Betriebe alternative Technologie-Optionen wie den Range Extender oder die Plug-in-Hybride.
WELT: Wie viel Schaden hat die ursprüngliche, auch von Ihrer SPD lange Zeit vehement verteidigte, restriktive Regelung, ab 2035 sollten keine Verbrennermotoren mehr neu zugelassen werden, bereits angerichtet?
Lies: Die Fokussierung auf 2035 bleibt richtig. Ohne sie wären wir in der technologischen Entwicklung längst nicht so weit, wie wir heute sind. VW baut inzwischen in Salzgitter hervorragende Batteriezellen. Das wäre ohne diese klare Zielsetzung nicht denkbar gewesen. Inzwischen ist klar, dass wir – auch aufgrund von Corona, dem Ukraine-Krieg und anderer geopolitischer Verwerfungen – unsere Ziele an die Realität anpassen müssen.
WELT: Andersherum gefragt: Welchen Nutzen bringt die Abkehr vom strikten Verbrenner-Aus der niedersächsischen Automobil- und Zuliefer-Industrie?
Lies: Sie gibt Luft zum Atmen. Wir können jetzt auch nach 2035 Plug-ins und Fahrzeuge mit Range Extender auf den Markt bringen, ohne Klimaziele zu verfehlen. Dafür werden nun Kompensationsmöglichkeiten geschaffen, und das bringt den Unternehmen den nötigen Spielraum, den sie brauchen, um die Transformation hin zur Elektromobilität erfolgreich zu bewältigen.
WELT: War es ein Fehler, dass VW lange Zeit exklusiv auf Elektromobilität gesetzt hat?
Lies: Volkswagen hat zu keinem Zeitpunkt exklusiv darauf gesetzt, aber der Konzern ist die Vorgaben aus Brüssel angegangen. Und viele stellen auch die Gegenfrage: Warum ist VW so spät in die Elektromobilität eingestiegen? Ich halte beides für verkürzt. Wenn heute der größte Anteil neu zugelassener Fahrzeuge in Europa aus dem VW-Konzern kommt, kann man doch nicht sagen, wir seien zu spät. Wir bauen verdammt gute Autos, auch verdammt gute Elektroautos. Die Akzeptanz für diese Elektroautos wächst, aber noch nicht in der Dynamik, die wir das vor Jahren prognostiziert hatten.
WELT: Ein Problem für Europas Autokonzerne ist der wachsende Wettbewerbsdruck, vor allem aus China. Welche Rahmenbedingungen brauchen die deutschen Unternehmen, damit sie standhalten können?
Lies: Wichtig wird zum einen sein, dass der Staat, wenn er die Elektromobilität fördert, diese Förderung daran bindet, dass die Wertschöpfung für diese Autos in Europa stattfindet. Zweitens: Wir brauchen eine E-Mobilitätsprämie auch für Gebrauchtwagen. Menschen mit geringerem Einkommen kaufen junge Gebrauchtwagen, keine Neuwagen, selbst wenn diese stark subventioniert werden. Wenn wir die Elektromobilität breit in die Gesellschaft bringen wollen, dürfen wir die Förderung nicht auf Neuwagen beschränken.
Hinzu kommt: Eine E-Mobilitätsprämie für Gebrauchtfahrzeuge ist de facto eine auf europäische Modelle zugeschnittene Förderung. Es gibt nämlich derzeit noch keine nennenswerte Zahl älterer Fahrzeuge aus China.
WELT: Warum plant die Bundesregierung dann trotzdem nur eine Förderung von Neufahrzeugen?
Lies: Nach jetzigem Stand soll der Kauf von Gebrauchtwagen in einem zweiten Schritt ebenfalls gefördert werden. Ich appelliere, beides zeitgleich zu machen. Und zwar möglichst schnell. Und auch für den Leasing-Bereich. Das wäre eine Riesen-Chance für die europäische E-Mobilität.
WELT: Wie hoch sollte diese Gebrauchtwagen-Kaufprämie sein?
Lies: Bei Neuwagen ist derzeit von 3000 Euro die Rede. Das sollte bei Gebrauchten ähnlich sein.
WELT: Wechseln wir kurz das Verkehrsmittel: Niedersachsen hat sich, anders als Hamburg, anders als auch Ihre Koalitionspartner von den Grünen, gegen die von der Bahn geplante Neubaustrecke zwischen Hamburg und Hannover ausgesprochen. Bleibt es dabei?
Lies: Ich bin da gar nicht gegen etwas. Ich bin für mehr Kapazität im Dreieck Hannover, Hamburg und Bremen. Und das möglichst schnell. Mir hilft kein Projekt, das uns frühestens in 30 Jahren weiterbringt. Ich habe schon vor zehn Jahren gesagt, dass wir heute mehr Kapazitäten brauchen. Und zwar für den Nahverkehr, den Güterverkehr und den Fernverkehr. Und deshalb fordere ich, dass alle Ausbaumöglichkeiten auf der Bestandsstrecke auch genutzt werden. Darüber hinaus darf die Bahn gerne planen, was sie will. Wenn das nicht den zügigen Ausbau der Bestandsstrecke behindern würde, wären wir endlich mal einen Schritt weiter.
WELT: Die Bestandsstrecke auszubauen, so argumentiert die Bahn, hieße gleichzeitig: jahrelange Bauarbeiten auf dieser wichtigsten Nord-Süd-Strecke, jahrelang Verspätungen und Zugausfälle bis hin zu einer jahrelangen Generalsanierung. Das kann nicht in Ihrem Interesse sein.
Lies: Es gibt ohnehin die Generalsanierungsphasen, die schon vor zehn Jahren für die Kapazitätserweiterung geplant waren. Entscheidend ist: Lieber jetzt eine realistische Lösung, als in 30 Jahren immer noch nicht weiter zu sein. Dann hätten wir über 80 Jahre über diskutiert, ohne endlich mehr Züge auf die Strecke zu bekommen.
WELT: Ihr politischer Wunsch für das neue Jahr?
Lies: Noch mehr Geschlossenheit in der Bundesregierung – und auch zwischen Bund und Ländern. Wir müssen insgesamt früher gemeinsam an Lösungen arbeiten. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit Bündnis 90/Die Grünen, die bei vielen wichtigen Entscheidungen spätestens im Bundesrat gebraucht werden.
WELT: Ein großes Thema des neuen Jahres werden die Sozialreformen sein. Wie soll sich Ihre Partei, die SPD positionieren, wenn es zum Beispiel um die Rente geht?
Lies: Grundsätzlich wird es so sein, dass beide Regierungsparteien, wir als SPD wie auch die Union, über ihren jeweiligen Schatten springen müssen, wenn sie die Herausforderungen, vor denen wir stehen, bewältigen wollen. Und zwar gemeinsam, nicht nacheinander und auch nicht erst nach einem langen öffentlichen Streit. Für die SPD wird das beim Thema Rente heißen, dass wir jetzt auch den Jüngeren ein Stück weit Sicherheit geben müssen. Dazu werden wir ein System brauchen, das auf der einen Seite über Beiträge und Steuern eine Absicherung durch den Staat bietet, auf der anderen Seite aber auch die Option für eine dritte Säule, für eine private Altersvorsorge eröffnet.
Und die Union muss sich überlegen, wie wir auf der Einnahmeseite vorankommen können. Es gibt viele, die auch wirtschaftlich von unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung und der Stabilität in unserem Land profitieren – und wir müssen darüber diskutieren, welchen Beitrag sie künftig leisten.
WELT: Bräuchte es nicht auch eine längere Lebensarbeitszeit?
Lies: Die Frage wird sein: Ist das Lebensalter tatsächlich der richtige Maßstab für den Zeitpunkt des Renteneintritts? Oder sind es vielleicht doch eher die Beitragsjahre? Eine Trennung nach Branchen oder Berufen finde ich immer schwierig. Pflegekräfte oder Erzieher beispielsweise haben ebenso anstrengende und belastende Jobs wie der immer wieder zitierte Dachdecker. Für mich würde es deshalb mehr Sinn ergeben, wenn wir ein System fänden, das den Renteneintritt an die Zahl der Beitragsjahre bindet.
Ulrich Exner ist politischer WELT-Korrespondent und berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.
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