Der Applaus, den die Altkanzlerin bekommt, als sie um 9.17 Uhr die Bühne des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Hannover betritt, ist unheimlich. Da ist eine Erwartung wie auf die Wiederkunft des Heilands.

Aber anstelle des Heilands kommt eine 1,65 Meter kleine, 70-jährige Frau in elastischen Rentner-Sneakern, schwarzer Hose, einem groben Blazer in der Nicht-Farbe Grün-Gelb-Ocker-Eierschale und winkt den Menschen zu. Ein gewisses Unbehagen liegt auch im Blick Angela Merkels (CDU), wie sie auf die klatschenden Menschen mit ihren Kirchentagsschals, Sandalen und Rucksäcken schaut. Das Klatschen wirkt auch wie ein Klatschen für sich selbst. Es ist die Selbstsuggestion, in guten Absichten das Richtige getan zu haben.

Merkel verlässt die Bühne noch mal. Sie setzt sich auf einen Klavierhocker links neben der Bühne. Ihre Beine sind etwas zu kurz für den Hocker. Sie kann den Boden gerade so mit den Zehenspitzen berühren. Stiernackige Personenschützer stehen um sie herum. Pfadfinder bilden eine Menschenkette, um sie von Blicken abzuschirmen. Merkel signiert noch ein Exemplar ihrer Biografie „Freiheit“. Aber dann geht es an diesem Donnerstag wirklich los.

Die Präsidentin des Evangelischen Kirchentags, Anja Siegesmund, führt noch schnell das Weltgeschehen zwischen „Klimakrise“ und „geopolitischen Spannungen“ ein. Sie macht ein bisschen Werbung für Merkels Buch, und erzählt, dass die Altkanzlerin sehr textsicher in Kirchenliedern sei. „Herzlich willkommen, Dr. Angela Merkel“, sagt sie schließlich.

Die Bibelstelle, die Merkel gewählt hat, stammt aus dem Markus-Evangelium. „Sie wissen vielleicht, das ist das kürzeste unter den Evangelien“, formuliert Merkel wie eine Religionslehrerin. Sie liest aus Markus 7 die Geschichte „Die syrophönizische Frau“. Es geht darin um eine Heidin aus Tyros, dem heutigen Libanon, die Jesus bittet, ihre Tochter von einem Dämon zu befreien. Jesus sagt der Frau, dass die erst mal den Kindern was zu essen geben soll und nicht den Hunden. Die Frau sagt, dass die Hunde schon satt würden von den Krümeln, die vom Tisch herunterfallen. Und Jesus sagt: „Der Dämon ist aus deiner Tochter ausgefahren.“ Soweit die sachliche und eigentlich pointenlose Geschichte.

Merkel betont, „dass Jesus oft Frauen traf. Er traf auch unverheiratete Frauen. Und das machte man eigentlich nicht, denn die Frauen waren damals dramatisch diskriminiert. (…) Sie durften den Tempel nicht besuchen. Sie waren als Zeuginnen nicht vor Gericht zugelassen.“

Merkel deutet das so: Die Kinder seien die Juden. Und die Hunde die Ungläubigen. Also zuerst sollen die Gläubigen was bekommen und dann die Heiden. Und Merkel sagt: „Und jetzt passiert etwas. Die Frau findet sich nicht ab, sondern widerspricht ihm.“ Jesus habe, so Merkel, ein Entweder-oder gefordert, bei dem entweder die Hunde oder die Kinder satt würden. Aber die syrophönizische Frau habe einen Kompromiss gemacht, bei dem alle satt würden.

Merkel sagt: „Jesus widerspricht nicht. Sondern er ist beeindruckt von ihrem Mut, davon, dass sie ihr Herz in die Hand nimmt (…), dass sie sich nicht einschüchtern lässt.“ Merkels Analyse: „Der Mut der Frau wird belohnt.“ Sie hat sich im „Angesicht einer Autorität, vor der man eigentlich vielleicht erst mal strammsteht, nicht einfach unterwürfig gezeigt“, sagt sie.

Dann erzählt Merkel, was Franziskus ihr geraten habe

Die Kanzlerin sieht darin deutliche Parallelen zu ihrem politischen Schaffen: „Ich glaube, dass ich häufig versucht habe, selbst in ausweglosen Situationen nicht einfach klein beizugeben, sondern nach Wegen zu suchen.“

Merkel ist keine begnadete Rednerin. Aber genau das erzeugt die Faszination der Menschen hier für die ehemalige Kanzlerin. Merkel ist wie die nette Tante, Mutter oder Großmutter, die am Wochenende im Supermarkt Kohl gekauft hat, und das jetzt ausführlich erzählt, nur, dass es hier nicht um den Einkauf, sondern um Weltgeschichte geht.

Papst Franziskus habe ihr einmal im Hinblick auf die Verhandlungen bei einem G-20-Gipfel geraten: „Biegen, biegen, biegen, aber aufhören, bevor es bricht.“ Sie erzählt von einem Treffen mit Greta Thunberg und Luisa Neubauer. „Ich sei nicht radikal genug, so habe ich ihren Vorwurf empfunden“, erinnert sich Merkel. Sie habe große Sympathien für Aktivismus und eine gewisse Radikalität, da sie gesellschaftliche Prozesse beschleunigen würden.

Merkel erzählt gerne von den vielen Krisen. Weltfinanzkrise. Klimakrise. Corona. Durch Krisen rechtfertigt sie ihr ganzes Handeln. „Die letzte, die ich zu bewältigen hatte, war nach Corona. Ich war aus der DDR in die Politik gekommen. Ich habe mich gefreut, dass wir Freiheit haben. Und plötzlich musste ich als Bundeskanzlerin Freiheitsrechte einschränken, damit Menschen überleben konnten.“

Und da merkelt sie wieder wie zur besten Zeit, als alles aus ihrer Sicht „alternativlos“ war. Tatsächlich muss sich eine Kanzlerin entscheiden. Aber für was – das bleibt ihr überlassen. Zu behaupten, sie musste die Freiheitsrechte einschränken, ist Geschichtsklitterung. Tatsache ist: Sie hat sie eingeschränkt. Aber gezwungen dazu hat sie niemand.

Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Ministerpräsidenten. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Sein Roman „Toxic Man“ ist im Piper-Verlag erschienen.

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