Junge Menschen glauben an die Chance zu sozialem Aufstieg – paradoxerweise gerade in Ländern mit sehr großen Einkommensunterschieden, wie ein Expertenduo im Fachjournal „Science“ berichtet. Tatsächlich sei die soziale Mobilität – der Auf- oder Abstieg in eine andere soziale Schicht – aber gerade in Ländern mit größerer Ungleichheit oft geringer. Es gebe in der jungen Generation ein steigendes Risiko für Frustration, Desillusionierung und auch sozialen Unruhen.
Soziale Mobilität spiegelt im Idealfall Chancengleichheit unabhängig vom familiären Hintergrund wider. In Zeiten anhaltenden Wirtschaftswachstums war es vielen Heranwachsenden zumindest möglich, den Status ihrer Eltern zu übertreffen, wie Francesca Borgonovi vom University College London und dem OECD Centre for Skills sowie Artur Pokropek vom Educational Research Institute in Warschau erläutern.
In vielen Ländern sind die Einkommen heute zugleich deutlich ungleicher verteilt als vor einigen Jahrzehnten noch. Auch in Deutschland hat die Einkommensungleichheit langfristig deutlich zugenommen, zuletzt verringerte sich der Verdienstabstand nach Daten des Statistischen Bundesamts im Zuge der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns allerdings etwas.
Die zunehmende Ungleichheit sowie ein stärkerer Zusammenhang zwischen dem Wohlstand der Eltern und den Zukunftsmöglichkeiten ihrer Kinder behinderten inzwischen die Aufwärtsmobilität, erläutern Borgonovi und Pokropek. „Die steigende Flut hebt nicht alle Boote gleichermaßen: Yachten werden höher gehoben als Beiboote.“
In Ländern mit größerer Ungleichheit sei die soziale Mobilität häufig generell geringer – ein Muster, das als „Great Gatsby Kurve“ bekannt ist. Verblüffenderweise sind die Erwartungen junger Menschen an Aufstiegschancen dennoch ausgerechnet dort höher, wo die Einkommensunterschiede stärker ausgeprägt sind, zeigen nun im Zuge der Pisa-Studie gewonnene Daten.
Im Mittel rechneten zuletzt noch sehr viele 15-Jährige mit vergleichsweise niedrigem sozialem Status fest damit, später einen weitaus höheren zu erreichen: In Deutschland waren es der Auswertung zufolge etwa 29 Prozent, in Ländern wie Albanien, Jamaika, Kasachstan und Rumänien sogar um die 40 Prozent. In Südkorea (18 Prozent), Malaysia (20 Prozent) und Frankreich (22 Prozent) gingen weitaus weniger Jugendliche dieser Gruppe noch davon aus.
Für die Analyse waren die Angaben von rund 390.000 Schülern aus 57 Ländern wie Deutschland, Spanien, Albanien, Brasilien, USA, Indonesien und Vietnam im Alter von 15 Jahren berücksichtigt worden. Die Mädchen und Jungen waren im Zuge der Pisa-Studie 2022 unter anderem gebeten worden, auf einer Skala von 1 bis 10 anzugeben, wo sie sich als 30-Jährige in der sozialen Hierarchie ihres Landes sehen. Die meisten 15-Jährigen erwarten demnach, den sozialen Status ihrer Eltern zu übertreffen, in allen untersuchten Ländern. Als Schlüssel zum Erfolg werde meist Bildung angesehen.
Jungen Menschen könne es schwerfallen zu unterscheiden, ob Statusunterschiede auf persönlichen Antrieb, Anstrengung und Fähigkeiten oder aber unverdiente Privilegien zurückzuführen sind, nehmen die Experten an. Ihre Erwartungen seien womöglich von vorherrschenden Erfolgsnarrativen bestimmt, die vielfach nicht mit den tatsächlichen Chancen für Aufstieg übereinstimmten.
Bei anhaltendem Wirtschaftswachstum habe das relativ wenig Auswirkungen für die Gesellschaft: Wenn sich der Lebensstandard allgemein verbessere, erreichten junge Menschen einen besseren Status als ihre Eltern und nähmen die weitaus größeren Chancen ihrer privilegierteren Altersgenossen kaum wahr, was Frustrations- und Entfremdungsgefühle abschwäche.
Wohlbefinden Jüngerer überraschend niedrig
Das anhaltende Wirtschaftswachstum trug also dazu bei, den sozialen Zusammenhalt in Gesellschaften aufrechtzuerhalten, trotz einer vielerorts immer weiter klaffenden Schere zwischen Arm und Reich und immer stärker vom Status der Eltern bestimmten Zukunftsaussichten. Doch die wirtschaftliche Lage ändert sich verbreitet – und unerfüllte Erwartungen können zu vermindertem Wohlbefinden, geringerem Vertrauen in Institutionen, weniger bürgerschaftlichem Engagement und sogar politischen Unruhen führen, wie es in dem „Science“-Beitrag heißt.
Erst kürzlich zeigte eine im Fachjournal „Nature Mental Health“ vorgestellte Analyse zum Wohlbefinden der Menschen eine überraschende Abweichung: Klassischerweise formt das Wohlbefinden im Lebenslauf ein U – Menschen fühlen sich in jüngeren Jahren und als Senioren wohler als in der Lebensmitte, die oft von vielen beruflichen und privaten Verpflichtungen geprägt ist. Doch nun blieb der Wohlbefinden-Index im Mittel der 22 betrachteten Länder bis zum 50. Lebensjahr im Wesentlichen gleich und stieg erst danach mit dem Alter an.
In Spanien wies die jüngste Altersgruppe (18- bis 24-Jährige) sogar das niedrigste Wohlbefinden auf. Jüngere Jahrgänge hätten offenbar mehr Probleme als frühere Generationen, vermutet das Team der „Global Flourishing Study“ um Tyler VanderWeele von der Harvard University in Cambridge als Ursache.
Borgonovi und Pokropek raten Ländern dazu, systembedingte Hindernisse für die Mobilität nach oben zu beseitigen. Leistungsorientierte Ideale müssten tatsächlich in sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg umgesetzt werden können. „Bildungssysteme sind in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, da sie jungen Menschen die erforderlichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Qualifikationen vermitteln, um besser bezahlte und prestigeträchtigere Berufe zu ergreifen und damit die sozioökonomischen Aussichten zu verbessern.“
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