Deutschlands neues Grenzregime ist in Kraft – auch Asylsuchende werden zurückgewiesen. Am Donnerstag und Freitag war das in 19 Fällen der Fall, wie „Bild am Sonntag“ berichtete. Insgesamt registrierte die Bundespolizei an beiden Tagen 365 unerlaubte Einreisen, 286 Migranten wurden zurückgewiesen. Hauptgründe für Zurückweisungen waren demnach fehlende Visa, fehlende oder gefälschte Dokumente oder Einreisesperren.
Zudem wurden 14 Schleuser in den zwei Tagen vorläufig festgenommen, 48 offene Haftbefehle vollstreckt sowie neun Personen aus dem extremistischen oder islamistischen Spektrum bei der Einreise aufgegriffen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte in seinem Grenzerlass bei Asyl-Zurückweisungen auch Ausnahmen verfügt: „Vulnerable Personen“ wie Kinder, schwangere Frauen und Kranke seien nicht betroffen. In vier Fällen konnten Asylsuchende deshalb am Donnerstag und Freitag einreisen.
CSU-Chef Markus Söder erwartet, dass die verschärften Grenzkontrollen und Zurückweisungen zur Senkung der Asylbewerber-Zahlen führen und die „europäischen Nachbarn das am Ende akzeptieren“ werden, wie er „Bild am Sonntag“ sagte – auch wenn es „Skepsis“ beim „einen oder anderen“ gebe. „Man wird jetzt schnellstmöglich auch vonseiten der Bundesrepublik mit den Partnern über Details weiterreden.“ Kanzler Friedrich Merz (CDU) sieht die Zurückweisungen im Einklang mit europäischem Recht: „Darüber sind auch unsere europäischen Nachbarn vollumfänglich informiert. Es gibt hier keinen deutschen Alleingang“, sagte er am Freitag in Brüssel.
Rechtsgrundlage für Zurückweisungen von Asylsuchenden, wie sie Dobrindt anordnete, ist zum einen Paragraf 18 Asylgesetz, wonach Einreisen verweigert werden dürfen, wenn jemand aus einem sicheren Drittstaat kommt. Zum anderen ist Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zentral: Damit kann die Dublin-Verordnung temporär außer Kraft gesetzt werden: Sie sieht vor, dass Deutschland Asylbewerber nicht an der Grenze zurückweisen kann, sondern erst prüfen muss, welches europäische Land sie zunächst betreten haben. Merz selbst hatte die Anwendung von Artikel 72 im August 2024 als Erklärung einer „nationalen Notlage“ eingeordnet, wie WELT berichtete. Inzwischen vermeidet er dieses Wording – wohl auch mit Rücksicht auf den Koalitionspartner SPD.
Im Bundestag herrscht grundsätzlicher Dissens darüber, ob das Vorgehen mit europäischem Recht in Einklang sei. Alexander Throm (CDU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, sagt WELT: „Ziel muss es sein, ein funktionierendes und faires Zuständigkeitsregime innerhalb der EU zu erreichen. Bis dahin sind Zurückweisungen rechtlich notwendig und zulässig, um weitere Überlastung unseres Landes zu vermeiden.“ Deutschland sei für Asylbewerber, die über Nachbarstaaten einreisen, „europarechtlich nicht zuständig. Das Problem besteht darin, dass EU-Recht, konkret die Dublin-Verordnung, seit Jahren nicht eingehalten wird.“
Oftmals nähmen die zuständigen EU-Staaten Asylbewerber nicht zurück, kritisiert Throm. „Alle Bemühungen der letzten zehn Jahre, dies zu korrigieren, hatten keinen Erfolg. Deshalb kann Deutschland seinerseits nicht länger auf Zurückweisungen verzichten.“
SPD-Fraktionsvize Sonja Eichwede sagt: „Ich verstehe den Bundeskanzler und unseren Koalitionspartner so, dass die Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen weiterhin im Einklang mit EU-Recht stehen. Unabgestimmte, pauschale Zurückweisungen bei Asylgesuchen an den Grenzen sind mit geltendem europäischen Recht nicht vereinbar.“ Ein mit den Nachbarstaaten abgestimmtes Handeln sei wichtig. „Das entspricht auch der Handschrift unseres Koalitionsvertrags.“
Eichwede betont: „In der Migrationspolitik gehören Menschlichkeit und Steuerung zusammen. Dazu stimmen wir uns mit unserem Koalitionspartner eng ab. Die europäische Einigung im Asylbereich und die Dublin-Regeln sind dabei zu achten. Sie führen zu dauerhaft besseren Verhältnissen.“
Wie die Opposition die Rechtslage bewertet
Die Grünen halten das Vorgehen der Regierung hingegen für einen eindeutigen Rechtsbruch. Fraktionsvize Konstantin von Notz erklärte in einer Mitteilung: „Geltendes Recht wird sehendes Auge gebrochen.“ Diese „Symbolpolitik“ schade der deutschen Wirtschaft sowie der europäischen Integration. Mehrere Abgeordnete, unter ihnen Fraktionschefin Britta Haßelmann, haben einen Fragenkatalog an das Bundesinnenministerium geschickt, um Auskunft über die gesetzliche Grundlage für Zurückweisungen von Asylsuchenden zu bekommen, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete.
Bei der Linke-Fraktion herrscht eine ähnliche Auffassung. „Selbst die Bundesregierung scheint ja zu wissen, dass die Zurückweisungen rechtswidrig sind – sonst müsste sie sich nicht auf einen Ausnahmezustand berufen“, sagt die rechtspolitische Sprecherin Clara Bünger WELT. „Im Normalfall, also ohne ,Notstand‘, gibt es schlicht keine rechtliche Grundlage, die solche Maßnahmen, also pauschale Zurückweisungen erlauben.“ Daher müsse ein „sofortiger Stopp“ erfolgen: „Diese Zurückweisungen sind rechtswidrig und ein Dammbruch für den Rechtsstaat.“ Menschen dürften nicht ohne Einzelfallprüfung abgewiesen werden, das sei geltendes Recht. „Wer jetzt Tatsachen schafft, bevor Gerichte urteilen, will keine Lösung, sondern Macht demonstrieren. Wir werden uns dem mit aller Entschlossenheit entgegenstellen.“
Bünger kritisiert, Artikel 72 diene nicht dazu, „Grundrechte auszuhebeln. Er erlaubt keine pauschale Außerkraftsetzung von Asylverfahren, keine Zurückweisung ohne Prüfung, kein Umgehen des Non-Refoulement-Gebots (völkerrechtlicher Grundsatz der Nicht-Zurückweisung, d. Red.). Das bestätigen alle maßgeblichen juristischen Bewertungen, auch auf europäischer Ebene.“ Sie verweist zudem auf die zuletzt gesunkenen Asylzahlen, die einen „Ausnahmezustand“ nicht legitimierten: „2025 sind die Erstanträge um über 46 Prozent gesunken, 2024 wurden rund 100.000 Anträge weniger gestellt als 2023. Von Überlastung oder Kontrollverlust kann keine Rede sein.“
Bünger warnt, dass ein Ausnahmezustand immer ein „gefährliches Mittel“ sei – besonders dann, „wenn er genutzt wird, um rechtswidriges Verhalten politisch zu rechtfertigen“. Das Grundgesetz enthalte bewusst keine „generelle Ausnahmezustandsklausel, mit der man Grundrechte aushebeln kann, aus historischer Verantwortung. Wer heute wieder mit solchen Mitteln regieren will, stellt sich außerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung.“
Für die AfD-Fraktion wiederum steht fest, wie ihr innenpolitischer Sprecher Gottfried Curio sagt: „Beim gegenwärtigen Grenzregime der Union herrscht nur noch Chaos.“ Bei ihr scheine nun „Arbeitsteilung zu herrschen bei der Wählertäuschung. Merz bekundet nach außen: Alles geschieht nur in Absprache mit den Nachbarn, es gibt keine nationale Notlage. Dobrindt sendet hingegen nach innen: Wir weisen zurück.“ Zugleich teile der Minister aber der Bundespolizei mit, dass die Zurückweisung auf Grundlage von Paragraf 18 Asylgesetz nur eine „Kann-Bestimmung“ sei – „was laut explizitem Gesetzestext gerade falsch ist“, kritisiert Curio. Die SPD wiederum vertrete die Auffassung, es gebe gar keine Anweisung zur umfassenden Zurückweisung. Curio wirft Merz vor, im Wahlkampf „vollmundige Ankündigungspolitik“ betrieben zu haben; nun verlasse den Kanzler „schon jeglicher Mut zur eigenen Courage – was übrigbleibt, ist Chaos“.
„Die Union weiß offenbar selber nicht, wie sie ihre Ankündigungen rechtssicher umsetzen soll“, sagt Curio – dabei sei die Rechtslage „höchst einfach“: „Bei einem aus Schutzgründen versuchten Grenzübertritt aus Österreich etwa befindet sich der Asylsuchende bereits in einem sicheren Staat, in welchem auch die vorgelagerte Zuständigkeitsprüfung durchgeführt werden kann. Selbstverständlich kann ein Ansinnen auf rechtsstaatliche Behandlung keinen Übertritt von Österreich nach Deutschland begründen, da Deutschland im Vergleich zu Österreich natürlich rechtsstaatlich keine irgendwie höhere Kategorie vertritt.“
Für Curio steht fest: „Die vollständige Zurückweisung ist deshalb problemlos umsetzbar. Dringend nötig ist sie sowieso.“
Johannes Wiedemann ist Leitender Redakteur im Ressort Politik Deutschland.
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