Auf Deutschland kommen bei dem Nato-Gipfel der 32 Staats- und Regierungschefs Ende Juni erhebliche neue Vorgaben für die Bundeswehr zu. In Den Haag soll vor allem über eine Erhöhung der nationalen Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts gesprochen werden – bislang liegt der Richtwert bei zwei Prozent. Besonders die USA dringen auf diesen Schritt, den zuletzt auch Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) befürwortet hat.
Ein weiteres Thema wird die künftige Truppenstärke der Militärallianz sein. Nach Informationen von WELT AM SONNTAG steht Deutschland vor besonderen Herausforderungen: Aus Nato- und Bundeswehrkreisen ist zu hören, dass aktuell über eine Zielgröße von 240.000 bis 260.000 Soldaten für Deutschland ab 2030 diskutiert wird – 60.000 bis 80.000 mehr als bisher geplant. Offiziell will das niemand bestätigen.
Personalverantwortliche der Bundeswehr, mit denen WELT AM SONNTAG sprach, halten diese Vorgaben hinter vorgehaltener Hand für unrealistisch. Bislang verfehlt die Bundeswehr mit rund 183.000 Soldaten ihr bisheriges Ziel von 203.000 bis 2031 deutlich. Ein zentrales Problem bleibt die geringe Attraktivität der Bundeswehr im Vergleich zur freien Wirtschaft. Laut internen Berichten brechen bis zu 30 Prozent der neu eingestellten Soldaten bei Heer, Marine oder Luftwaffe den Dienst innerhalb der ersten sechs Monate ab. Jährlich scheiden auf diese Weise 4000 bis 5000 Soldaten aus – etwa so viele, wie für die neue Brigade in Litauen gebraucht werden.
Die Gründe sind vielfältig. Soldaten klagen über einen rauen Umgangston in der Ausbildung, Versetzungen fern der Heimat oder fehlende berufliche Perspektiven. „Wir werden weiterhin große Anstrengungen darauf richten, die einmal gewonnenen Soldatinnen und Soldaten von einem Verbleib in der Bundeswehr zu überzeugen. Hierzu zählen unter anderem entsprechendes Erwartungsmanagement bereits vor Dienstantritt, regionalisierte Einplanungen, attraktive Infrastruktur“, so eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums.
Manche Probleme sind aber hausgemacht: Teilstreitkräfte lehnen es mitunter ab, Soldaten zu übernehmen, die ihre Grundausbildung in einer anderen Teilstreitkraft absolviert haben. Der Vorschlag von Generalinspekteur Carsten Breuer, angesichts sich stark unterscheidender Abbrecherquoten je nach Teilstreitkraft, eine gemeinsame Grundausbildung zu entwickeln, liegt seit Monaten auf Eis. Und eine Kündigungsfrist wie im zivilen Arbeitsleben gab es lange überhaupt nicht. Erst seit einem Jahr gelten vier bis sechs Wochen.
Ideenlosigkeit bei der Personalgewinnung sorgt für Kritik
Sollte sich die Zielgröße der Bundeswehr erhöhen, dürfte die Debatte über eine Reaktivierung der Wehrpflicht aufflammen. Diese würde zwar mehr Rekruten bringen, doch fehlt es dafür an politischem Rückhalt. Zudem würde sie die Fachkräfteprobleme nicht lösen. Wichtiger wäre aus Sicht vieler Personalplaner eine bessere Bezahlung, durchlässigere Laufbahnen und mehr Flexibilität bei Beförderungen. „Das ganze System ist mehr auf die Pflege des Bestands ausgerichtet als auf die Rekrutierung neuer Soldaten“, sagte ein Planer WELT AM SONNTAG. Die Grundausbildung sei nicht attraktiv. Es fehle an Material und Angeboten. „Man muss deutlich kreativer sein, um junge Menschen zu gewinnen.“
Die Ideenlosigkeit bei der Personalgewinnung sorgt in der Bundeswehr für Kritik. Insbesondere wird die neue Abteilungsleiterin Personal, Oda Döring, im Ministerium als unauffällig beschrieben. Ihr fehle der Draht zu den Inspekteuren, die eigene Personalpolitik betrieben. Ein Planer klagt: „Da setzt sich niemand durch. Und Pistorius lässt alles laufen.“
Angesichts der Sicherheitslage, besonders in der Ostseeregion, muss die Bundeswehr ihre Probleme schnell lösen. Erst am Donnerstag kam es zu einem Vorfall: Ein russisches Kampfflugzeug drang eine Minute unerlaubt in den estnischen Luftraum ein. Außenminister Wadephul warnte gegenüber dieser Redaktion: „Im Ostseeraum bedroht Russland uns alle. Die Bedrohung hat sich zuletzt verschärft: Durchtrennte Kabel, gestörte Signale und verdächtige Schiffe bereiten uns große Sorgen. Wir als Anrainer, Nato und EU setzen uns mit aller Kraft gegen hybride Bedrohungen zur Wehr – auch mit mehr Patrouillen.“
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