Am Montagnachmittag war es endlich so weit. Nach elfwöchiger Blockade wurden erstmals wieder Hilfsgüter in den umkämpften Gaza-Streifen gefahren. Insgesamt passierten jedoch nur neun Lastwagen mit Babynahrung und Mehl den Kontrollpunkt Kerem Schalom. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, urteilten die UN. Selbst israelischen Schätzungen zufolge werden pro Tag 200 bis 300 Trucks mit Lebensmitteln benötigt, um die rund 2,2 Millionen Bewohner der Enklave am Mittelmeer zu versorgen.
Es brauche eben Zeit, um die Einfahrt von Hunderten von Lastwagen zu organisieren, erklärte der israelische Militärsprecher Nadav Shoshani. In Planung sollen in Zukunft rund 100 Lieferungen pro Tag sein. Die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu will nur „eine Grundmenge an Nahrungsmitteln“ einführen, damit sich die Terrororganisation Hamas nicht bereichern könne.
Die Hilfslieferungen kommen zu einem wichtigen Zeitpunkt. Während des Waffenstillstands im Januar hatten täglich bis zu 600 Lastwagen den Gaza-Streifen erreicht. Der Überschuss an erhaltenen Lebensmitteln ist mittlerweile aufgebraucht und es hätte eine Hungersnot gedroht. Genau das wollten Netanjahu und sein Kabinett verhindern.
„Wir können keine Bilder einer Hungerkrise akzeptieren“, sagte der Regierungschef in einem Video auf seinem persönlichen Telegram-Kanal. Dabei ging es ihm vermutlich weniger um leidende Palästinenser, als vielmehr um Israels „größte Freunde in der Welt“, die immer größeren Unmut über die Lage im Gaza-Streifen äußern.
So verurteilten die Staats- und Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Kanadas in einer gemeinsamen Erklärung Israels Umgang mit der humanitären Situation und forderten die Regierung auf, „die Militäraktionen in der Enklave sofort einzustellen und Hilfslieferungen zuzulassen“. Israel habe nach dem 7. Oktober zwar das Recht sich gegen Terrorismus zu verteidigen, „aber diese Eskalation ist völlig unverhältnismäßig“. In der Erklärung wird sogar mit Sanktionen gegen den jüdischen Staat gedroht.
Auch aus Deutschland kam Kritik. „Ermöglichen Sie den humanitären Organisationen, Leben zu retten“, forderte das Auswärtige Amt in Berlin. Selbst aus Washington hörte man ungewohnte Töne. US-Präsident Trump sprach von „sehr vielen hungernden Menschen in Gaza“. Auch Vizepräsident J.D. Vance zeigte sich „besorgt“. Laut israelischen Medienberichten hat er eine eigentlich geplante Reise nach Israel abgesagt. Demnach hatte Vance erwägt, am Dienstag im Anschluss an die Amtseinführung von Papst Leo XIV. von Rom nach Jerusalem zu fliegen.
Ein Grund ist sicher, dass Kritiker seinen Besuch als Unterstützung der am Wochenende neu gestarteten israelischen Offensive im Gaza-Streifen hätten interpretieren können. Nach Angaben der israelischen Streitkräfte (IDF) sind fünf Divisionen im Einsatz. 670 Ziele seien bisher getroffen worden, wobei dem Gesundheitsministerium der Hamas zufolge über 200 Zivilisten ums Leben kamen.
Nach außen hin unterstützt die Trump-Regierung Israel und macht die Terrorgruppen in Gaza für alle Todesopfer verantwortlich. Aber Trump möchte in erster Linie diesen unliebsamen Krieg mit einem Waffenstillstand und der Befreiung aller Geiseln beenden. Was danach geschieht, etwa der anvisierte Wiederaufbau des Küstenstreifens als „Riviera“, ist eine andere Frage.
Der US-Präsident scheint langsam die Geduld zu verlieren. Sein Sondergesandter Steve Witkoff verhandelt seit Monaten in der katarischen Hauptstadt Doha über die Vermittler Katars und Ägyptens mit der Hamas. Aber eine Lösung ist bisher nicht in Sicht – nicht zuletzt wegen der Maximalforderungen der israelischen Regierung. Sie akzeptiert nicht die Freilassung der letzten 58 Geiseln allein als Bedingung für eine Einstellung der Kampfhandlungen. Die Hamas müsse zudem entwaffnet und entmachtet werden, ihre Führer ins Exil gehen.
Netanjahu bekräftigte am Montag erneut, als er auf die herbe Kritik der Verbündeten reagierte, dass Israel nicht von seinen Kriegszielen abrücken werde. Man wird sich „weiterhin mit gerechten Mitteln verteidigen, bis der vollständige Sieg errungen ist“. Unter Sieg versteht der Premierminister „die Kontrolle über alle Gebiete des Gaza-Streifens“. Israelische Soldaten sollen dort stationiert bleiben und die komplette Zerschlagung der Hamas garantieren.
Medienberichten zufolge will die israelische Armee vier militärische Sperrzonen im Norden, Süden und im Zentrum des Gaza-Streifens einrichten. Dazwischen liegen drei voneinander getrennte zivile Zonen. Die Bewohner der Enklave sollen nur mit Genehmigung zwischen den Zonen hin- und herreisen können. Der Transport von Waren zwischen den verschiedenen Gebieten soll strengen Sicherheitskontrollen unterliegen.
In den Militärzonen sollen neue Verteilungszentren für Hilfsgüter eingerichtet werden. Damit will man die UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge) und andere internationale Hilfsorganisationen ablösen, die bisher dafür verantwortlich waren. Israel hatte sie der Kooperation mit militanten Palästinensergruppen, allen voran die Hamas, beschuldigt. Dieser Plan soll sicherstellen, dass Terrororganisationen nicht mehr Lieferungen von Hilfsgütern plündern können.
US-Firmen statt internationale NGOs
Bereits in einer Woche sollen amerikanische Firmen wie Safe Reach Solutions und UG Solutions die Lebensmittelversorgung übernehmen. Es sind dieselben Unternehmen, die schon im Januar nach Inkrafttreten des Waffenstillstands gemeinsam mit ägyptischen Sicherheitskräften die Kontrolle von Fahrzeugen übernahmen, die vom südlichen in den nördlichen Gaza-Streifen fahren wollten. Die Mitarbeiter dieser Unternehmen haben häufig einen militärischen Hintergrund und kommen aus dem Umfeld des amerikanischen Geheimdiensts CIA.
Noch ist unklar, ob Netanjahu tatsächlich den Gaza-Streifen auf Dauer besetzen und womöglich sogar die Vision einiger rechts-religiöser Fanatiker im Kabinett, wie Bezalel Smotrich, verwirklichen will. „Der Gaza-Streifen wird vollständig zerstört“, sagte der Finanzminister am Montag zum wiederholten Male. Er möchte, dass die palästinensische Bevölkerung „in großer Zahl in Drittländer abwandert“.
Aber schon die Blockade und die neue Offensive haben Israel selbst unter seinen Verbündeten ins Abseits gedrängt. Eine ethnische Säuberung in den besetzten Gebieten, was die Aussagen Smotrichs nahelegen, würde das Land noch weiter in die Isolation treiben.
Bis zu einer vollständigen Kontrolle des Gaza-Streifens ist jedoch noch ein langer Weg. Denn der internationale Druck dürfte nicht nachlassen. Und militärisch ist es schwierig, die Hamas zu bekämpfen und zerschlagen; es könnten weit mehr israelische Soldaten sterben als bisher.
Zudem „versteht die Öffentlichkeit nicht wirklich, warum es wieder Krieg gibt“, sagt der israelische Sicherheitsexperte Ronen Bergman. Selbst die Militärführung sei unschlüssig, wohin die neue Offensive führt. „Die Armee kämpfte anderthalb Jahre lang den längsten Krieg ihrer Geschichte und es gelang ihr nicht, die Hamas zu besiegen“, schreibt Bergmann auf der israelischen Nachrichtenseite Ynet.
Es wurden zwar viele Tunnel der Hamas zerstört, aber es existieren immer noch unentdeckte unterirdische Systeme, in denen sich ihre Kämpfer verstecken und als Ausgangspunkt von Hinterhalten nutzen können.
Das erklärte Ziel der Offensive ist auch die Befreiung der Geiseln. Die Armee hat bisher nur acht der ursprünglich mehr als 200 Entführten im Rahmen von Spezialoperationen retten können. Die Geiseln werden ständig von Unterschlupf zu Unterschlupf gebracht. Um sie zurückzubringen, will Israel militärisch immer mehr Druck aufbauen. Bergman, ein Kenner der israelischen Geheimdienste, sieht das kritisch: „Das hat man 19 Monate versucht, und es hat nicht funktioniert.“
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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