Es waren starke Worte. Vor knapp vier Wochen hatten führende europäische Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Friedrich Merz, bei einem gemeinsamen Besuch in Kiew eine „deutliche Verschärfung der Sanktionen“ gegen Russland angekündigt, falls Moskau innerhalb von zwei Tagen, also bis 23.59 Uhr am Montag, den 12. Mai, nicht bereit sein sollte, die Kämpfe in der Ukraine einzustellen.
Man werde die Sanktionen „entschlossen“ und „mit aller Konsequenz auf den Weg“ bringen, sagte Merz damals. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beteuerte: „In den nächsten Tagen.“ Kreml-Chef Wladimir Putin zeigte sich unbeeindruckt und führte Merz & Co. vor. Die Zahl der nächtlichen Angriffe Russlands auf die Ukraine mit Marschflugkörpern und Drohnen erreichte danach neue Rekordwerte und Kiew gerät seitdem militärisch immer stärker unter Druck.
Warum nur halten die Europäer trotz ihrer vollmundigen Ankündigungen in puncto Sanktionen weiter still und riskieren damit Glaubwürdigkeit zu verlieren, was Putin als ein weiteres Zeichen der Schwäche sehen dürfte?
Die Antwort auf diese Frage ist einfach und besteht aus zwei Wörtern: Donald Trump. Der US-Präsident entscheidet als letzte Instanz allein darüber, ob, wann und in welchem Ausmaß weitere Sanktionen gegen Russland verhängt werden.
Warum ist das so? Warum können die Europäer nicht allein über neue Sanktionen gegen Russland entscheiden? Das hat vor allem drei Gründe. Erstens: Moskau setzt darauf, dass die USA und Europa mit Blick auf den Ukraine-Krieg immer weiter auseinanderdriften und man beide Seiten erfolgreich spalten kann. Genau dies aber wollen Washington und Brüssel verhindern.
Zweitens: Die Europäer wollen die „Friedensbemühungen“ von Trump nicht eigenmächtig unterlaufen, weil sie schon genug Ärger mit dem unberechenbaren US-Präsidenten haben. Die EU setzt auf abgestimmte und solidarische Maßnahmen.
Und Drittens: Die neuen Sanktionen gegen Russland könnten das Ausmaß der bisherigen, nur mäßig erfolgreichen Sanktionspakete weit überschreiten, sie würden andererseits möglicherweise aber auch hohe wirtschaftliche Risiken für die westlichen Volkswirtschaften bedeuten – darum wollen die Europäer unbedingt mit Washington an einem Strang ziehen. Zudem würden koordinierte transatlantische Strafmaßnahmen deren Wirksamkeit erhöhen.
Was spielte sich in den vergangenen Wochen beim Verwirrspiel um Sanktionen hinter den Kulissen ab?
Am 7. Mai führte der republikanische US-Senator und Trump-Vertraute Lindsey Graham vertrauliche Gespräche am Rande des Treffens EU-Außenminister in Warschau. Graham arbeitet zusammen mit dem demokratischen US-Senator Richard Blumenthal an einem Sanktionspaket, das Importtarife (Sekundärtarife) in Höhe von bis zu 500 Prozent für Staaten wie China und Indien vorsieht, die weiterhin etwa Öl, Gas und Uran aus Russland beziehen.
Laut Graham wird die Initiative aktuell von 82 der insgesamt 100 Senatoren gestützt und außerdem mit dem Weißen Haus koordiniert. Graham selbst spricht von „knochenbrechenden“ („bone-crushing“) Sanktionen. Die EU-Außenminister zeigten sich in Warschau erfreut, dass Washington eine enge Abstimmung wünschte, sie wollten sich aber zum damaligen Zeitpunkt noch nicht festlegen, zumal völlig unklar war, ob Graham sich am Ende zu Hause auch durchsetzen würde.
Drei Tage später, am 10. Mai, reisten Merz, Macron, der britische Premierminister Keir Starmer und Polens Ministerpräsident Donald Tusk mit dem „Bravery Express“ nach Kiew, sie wollten Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigen - und nebenbei mit markigen Sanktionsdrohungen den Druck auf Putin erhöhen.
Die vier Spitzenpolitiker telefonierten von Kiew aus mit Trump – es war ihnen wichtig, dass Washington eingebunden wird und sie wollten zugleich dem US-Präsidenten zeigen, dass Europa bereit ist, sich stärker engagieren. Merz & Co. hatten kurzzeitig den Eindruck, in der Frage von schnellen Sanktionen Trump auf ihrer Seite zu haben.
Doch es kam anders. Es deuteten sich überraschend Gespräche zwischen amerikanischen, russischen und ukrainischen Unterhändlern in Istanbul an. Die europäischen Spitzenpolitiker entschlossen sich daraufhin, ihre Drohung mit schnellen Sanktionen aufzuschieben, um die Gespräche in Istanbul am 16. Mai nicht zu gefährden.
Einzelheiten eines 18. Sanktionspakets
Während der Unterredung in Istanbul hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen einen bemerkenswerten Auftritt in Tirana, der Hauptstadt Albaniens. Sie sagte: „Uns ist der Frieden wichtig. Deshalb müssen wir den Druck auf Präsident Putin erhöhen, bis er bereit für Frieden ist.“ Von der Leyen nannte sogar Einzelheiten für ein mögliches 18. Sanktionspaket.
„Dieses Paket wird unter anderem Sanktionen gegen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 umfassen, es werden weitere Schiffe auf die Liste der russischen Schattenflotte gesetzt, die Preisobergrenze für Öl wird gesenkt und schließlich werden weitere Sanktionen gegen den Finanzsektor in Russland beschlossen“, sagte von der Leyen.
Diese Aussagen waren der zaghafte Versuch, Entschlossenheit zu zeigen, ohne allerdings wirklich Druck ausüben zu müssen. In Wahrheit wären die angekündigten Maßnahmen weitgehend symbolischer Natur, weil sie in der Praxis aus verschiedenen Gründen nur eine begrenzte Wirkung hätten. Das erkannten auch Trump – und Putin. Aber von der Leyen hatte es zumindest in den Augen der europäischen Öffentlichkeit geschafft, Entschlossenheit zu zeigen.
Nach erfolglosen Gesprächen in Istanbul telefonierten Putin und Trump am Nachmittag des 19. Mai zwei Stunden lang miteinander. „Ich denke, er hat genug (vom Blutvergießen; Anm. d. Red.)“, sagte Trump anschließend. Putin wolle „sofort“ damit beginnen, an einem Waffenstillstand zu arbeiten, betonte der US-Präsident. Moskau sei nun bereit, an einem „Memorandum“ zur Vorbereitung eines „möglichen künftigen Friedensabkommens“ zu arbeiten.
Das war ein entscheidender Moment. Denn von nun an war die Luft aus schärferen Sanktionen gegen Russland erst einmal raus – und Merz & Co. standen nackt da. Zwar verabschiedete die EU nur einen Tag später, am 20. Mai, wie bereits lange geplant ihr 17. Sanktionspaket. Die Maßnahmen waren allerdings weitgehend zahnlos und ohne größere Bedeutung. Das Paket war eher eine Beruhigungspille für die Europäer als ein wirksames Druckmittel gegen Putin.
EU-Diplomaten berichteten WELT, dass der US-Präsident unmittelbar im Anschluss an das Telefonat bei neuen Sanktionen auf die Bremse getreten hätte. „Augenscheinlich kann die EU nicht allein über neue Sanktionen entscheiden“, sagte ein europäischer Spitzendiplomat. Laut CNN teilte Trump den Europäern wenige Tage nach seinem Gespräch mit Putin am Telefon mit, dass sich die USA neuen Sanktionen gegen Russland vorerst nicht anschließen würden.
Trump verzögert neue Sanktionen
Die Europäer waren darüber erstaunt, denn während des Telefongesprächs, das Merz und Kollegen mit dem US-Präsidenten von Kiew aus geführt hatten, hatte Trump offenbar noch einen anderen Eindruck erweckt. Aus Sicht der Europäer brachte das Telefonat zwischen Trump und Putin auch keine echten Fortschritte. Putin spiele weiterhin auf Zeit, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Warum also zögerte der US-Präsident wieder?
CNN berichtete, „Trump hat privat gesagt, dass er besorgt ist, dass neue Sanktionen Russland von Friedensgesprächen abhalten könnten“. Dazu passt eine Aussage, die US-Außenminister Marco Rubio am Dienstag der vergangenen Woche, also einen Tag nach dem Telefonat zwischen Trump und Putin, im außenpolitischen Ausschuss des Senats machte. Rubio sagte, Trump „glaubt, dass die Drohung mit Sanktionen zum jetzigen Zeitpunkt dazu führen würde, dass Russland die Gespräche abbricht, und es ist von Wert für uns, dass wir mit ihnen sprechen und sie dazu bewegen können, an den Tisch zu kommen“.
In Washington wartet man nun ungeduldig auf das „Memorandum“, das Putin angekündigt hatte. Die US-Administration war davon ausgegangen, dass der Kreml mit der Ausarbeitung des „Memorandums“ schneller vorankommen würde. Zudem zeigte sich Trump nach den jüngsten schweren Angriffen auf die Ukraine mit zahlreichen zivilen Opfern erbost über Putin: „Ich weiß nicht, was falsch bei ihm läuft. Was zum Teufel ist mit ihm passiert“?
Am vergangenen Sonntag sagte Trump dann zu Reportern in New Jersey, Sanktionen wären „absolut“ eine Erwägung. Aber in Europa fragt man sich: Wäre der US-Präsident wirklich bereit, massive Sanktionen à la Graham gegen Staaten zu verhängen, die mit Russland Geschäfte machen und damit eine immense wirtschaftliche Konfrontation mit China und Indien zu riskieren? Und: Wie weit würden Grahams Sanktionspläne im Repräsentantenhaus und im Weißen Haus möglicherweise noch abgeschwächt werden? Oder blufft Trump am Ende nur und hofft allein mit Drohungen, Putin zum Einlenken zu bewegen?
Aus europäischer Sicht ein Alptraum
EU-Diplomaten in Brüssel betonen gleichzeitig, es bestünde aber auch die „reale Möglichkeit“, dass sich Trump als Waffenlieferant für Kiew und Vermittler zwischen der Ukraine und Russland „entnervt“ verabschieden wird, die Europäer allein lässt und gleichzeitig eine neue Zusammenarbeit mit Russland in Wirtschaftsfragen aufbaut, etwa bei der Exploration der Arktis. Das wäre aus europäischer Sicht ein Alptraum.
Die EU arbeitet unterdessen an einem 18. Sanktionspaket. In Diplomatenkreisen hieß es dazu am vergangenen Wochenende, man hoffe, mit den Arbeiten bis zum kommenden Treffen der EU-Außenminister am 23. Juni fertig zu sein. Ob es dazu kommen wird, hängt auch maßgeblich von Trump und den Beratungen im US-Kongress ab. Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda macht bereits Druck: „Ich hoffe wirklich, dass unsere Kollegen in der Europäischen Union verstehen, dass das 17. Sanktionspaket nur ein Aufwärmen war. Wir müssen ein 18. Sanktionspaket vorbereiten, das wirklich einem Molotowcocktail gleicht“.
Während Merz derzeit zum Thema Sanktionen schweigt, kommt Macron bereits wieder aus der Deckung. Die Verbündeten der Ukraine sollten dem russischen Präsidenten mit Unterstützung der USA eine Frist setzen, „damit endlich jeder versteht, dass er lügt.“ Nach Ablauf der Frist sollten massive Vergeltungsschritte folgen, „insbesondere in Form von Sanktionen“, sagte Macron.
Bei der Frage, welche neuen Sanktionen der Europäer rechtlich überhaupt möglich wären, spielt auch ein deutscher EU-Beamter eine zentrale Rolle: Frank Hoffmeister, Jura-Professor und Chef des Juristischen Dienstes des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Hoffmeister muss beispielsweise in diesen Tagen prüfen, unter welchen Bedingungen und auf welcher rechtlichen Grundlage die Beschlagnahmung der eingefrorenen russischen Vermögen von mehr als 300 Milliarden Euro vielleicht doch möglich wären.
Merz will die Prüfung aus Brüssel abwarten, bisher war die Bundesregierung in dieser Frage aber eher zurückhaltend, während etwa die baltischen Staaten auf eine schnelle Einziehung der russischen Gelder drängen. Geprüft wird derzeit auch von der EU-Kommission, inwieweit es möglich ist, neue Sanktionen zu verabschieden, auch wenn Ungarn und die Slowakei dagegen sein sollten.
Dabei wäre die Regierung von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán durchaus bereit, neue, auch scharfe Sanktionen mitzutragen – aber nur, wenn zuvor grünes Licht aus Washington kommen und es beispielsweise künftig beim Import von russischem Öl Ausnahmeregelungen oder lange Übergangsfristen für bestimmte Länder geben würde.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
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